Für eine Reform der Lehre in den Hochschulen


Entschließung der 3. HRK-Mitgliederversammlung vom 22.4.2008



Die Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonferenz beschließt auf der Grundlage des Strategiepapiers "Für eine Reform der Lehre in den Hochschulen":

  1. Die Hochschulrektorenkonferenz empfiehlt ihren Mitgliedshochschulen, das Papier "Für eine Reform der Lehre in den Hochschulen" zur Basis einer intensiven strategischen Diskussion zu diesem Thema zu machen.
  2. Die Hochschulrektorenkonferenz fordert die Länder auf, die zu einer solchen Reform notwendigen (personellen, sächlichen und rechtlichen) Voraussetzungen zu schaffen.
  3. Die Hochschulrektorenkonferenz empfiehlt den Akkreditierungsagenturen, das Reformpapier bei den Programm- und Systemakkreditierungen angemessen zu berücksichtigen.


Die Hochschul- und Unterrichtsforschung zeigt, wie viel effektiver eine studierendenzentrierte Lehre im Verhältnis zur traditionellen reinen Wissensvermittlung ist. Sie ist Kern eines geänderten Grundverständnisses von Lehre in den Hochschulen und Grundlage der Umgestaltung der Lernumgebungen. Dieser Wandel bedeutet eine strategische Aufgabe der Hochschulen, eine Herausforderung für den einzelnen Lehrenden, eine Herausforderung für die Studierenden und nicht zuletzt eine Forderung an die Politik nach Ressourcen und zusätzlichen Spielräumen in der Gestaltung von Studium und Lehre. Dieser Wandel konkretisiert sich für alle Beteiligten im Studiengang. Hier müssen sorgfältig erarbeitete Qualifikationsziele, angemessene Lehr-, Lern- und Prüfungsformen, die Weiterqualifikation der Lehrenden und eine aktivere Rolle der Studierenden abgestimmt werden und zusammenwirken.


1. Von der Wissensvermittlung zur studierendenzentrierten Lehre: Anforderungen an neue Lehrstrategien


"Gute" Lehre besteht darin, das eigenständige Lernen der Studierenden zu ermöglichen und zu unterstützen. In diesem Sinne ist gute Lehre heute studierendenzentriert. Lehre hingegen, die sich als reine Wissensvermittlung begreift und die aktive Verarbeitung des Wissens durch die Studierenden vernachlässigt, verschenkt einen großen Teil ihrer möglichen Wirkung. Die Gestaltung der Lernumgebung durch die Lehrenden macht den Unterschied zwischen guter und weniger guter Lehre aus.


Lehrstrategien und -konzepte müssen heute durchgängig darauf ausgerichtet sein, die Studierenden als selbständige, eigenverantwortliche Lerner anzusprechen und herauszufordern. Diese studierendenzentrierten Lehrmethoden und -strategien erweisen sich - so der heutige Stand der Unterrichtsforschung - als wesentlich effektiver als traditionelle Formen der Wissensvermittlung. Positive Erfahrungen liegen hierzu bereits an vielen Universitäten und Fachhochschulen vor, aber es fehlt die flächendeckende Umsetzung dieser Erkenntnis. Bei einer konsequenten Umsetzung dieses Ansatzes werden die Studierenden ein größeres Selbstwertgefühl entwickeln und sich zufriedener mit der Lehre und den von ihnen besuchten Lehrveranstaltungen zeigen.


Lehre muss - auch unter schwierigen Bedingungen - den Dialog mit den Studierenden suchen. Lehr- und Lernformen mit intensiver Kommunikation zwischen Lehrenden und Studierenden sowie guter Kooperation zwischen den Studierenden tragen zu Erkenntnisfortschritten bei. Beratungs- und Zusatzangebote zu Arbeits- und Diskussionstechniken unterstützen dieses Lehr- und Lernverständnis. Studienprogramme sollten dem Stand des Lernens und dem Vorwissen entsprechend den Studierenden Orientierungshilfen anbieten und zugleich individuelle Entfaltungsmöglichkeiten zulassen; zu geringe Wahlmöglichkeiten (unter 20% der Lehrveranstaltungen) sollten ebenso vermieden werden wie zu große Offenheit (max. 50%). Systematisches und regelmäßiges Feedback für Studierende über ihre Studienleistungen ist heute der Schlüssel zur Unterstützung eines aktiven selbständigen Lernens. Regelmäßige Rückmeldungen über Lernfortschritte wie Probleme der Studierenden sind nicht nur eine wesentliche Aufgabe von Prüfungen sondern auch laufender Lehrveranstaltungen.


Für den Lernerfolg der Studierenden ist die Gestaltung des Prüfungswesens so bedeutsam wie die Auswahl der Lehr- und Lernformen. Die inhaltliche Ausrichtung und die Standards der Prüfungen müssen unbedingt zwischen den Lehrenden abgestimmt sein, damit die Studierenden wissen, woran sie sich zu orientieren haben; und das Prüfungssystem muss allen Beteiligten einen Blick auf die übergeordneten Ziele des Curriculums und die inhaltlichen wissenschaftlichen Zusammenhänge ermöglichen.


2. Lehrqualität als strategisches Ziel und der Studiengang als entscheidende Handlungsebene: Zur Umsetzung "guter" Lehre


Die Qualität der Lehre zeigt sich an den Lernfortschritten der Studierenden und in der Qualität der erreichten Lernergebnisse (z.B. Abschlussarbeiten). Gute Lehre setzt ausreichende Ressourcen für die Gestaltung komplexer Lernumgebungen (Labor- und Praktikumsplätze, Medien etc.) voraus. Sie kann - insbesondere in den so genannten Massenfächern - nur im Zusammenwirken von zentralen und dezentralen Organen und Gremien, von Studiengängen, Fachbereichen bzw. Fakultäten und Hochschulleitungen umgesetzt werden. Die folgenden Anforderungen sollten dabei beachtet werden:


Die Hochschulen müssen studierendenzentrierte Lehre zum Bestandteil ihrer Entwicklungsstrategie machen. Hierzu müssen sie auf der Basis des aktuellen jeweiligen Standes und der Umstände des Lehrens und Lernens einen Handlungsrahmen gemeinsam mit und für die verantwortlichen Lehreinheiten formulieren. Dieser Handlungsrahmen bezieht sich auf die Aushandlung, Abstimmung und Umsetzung der Ziele der Studiengänge. Diese müssen dabei die Vorkenntnisse und Entwicklungsmöglichkeiten der Studierenden, das wissenschaftliche Profil der Hochschulen und ihrer Fachbereiche bzw. Fakultäten sowie die gesellschaftlichen Ansprüche an die Hochschulen berücksichtigen. Angesichts der vielfältigen und zum Teil auch widersprüchlichen gesellschaftlichen Erwartungen an die Hochschulen darf der wissenschaftliche Charakter der Ausbildung in den Schwerpunkten, Inhalten und Formen der Lehre nicht aufgegeben werden.


Die Hochschulen sind im Eigeninteresse gehalten, auch institutionelle Formen der Qualitätssicherung (Qualitätsmanagement) für die Entwicklung, Einführung, Durchführung und Revision Studiengängen schrittweise aufzubauen. So stellen sie auch sicher, dass die Lehrveranstaltungen und die Lehr- und Prüfungsformen studierendenzentriert gestaltet werden, die Entwicklung komplexer Kompetenzen und Qualifikationsmuster fördern und die Lehre eng mit Studien- und Lehrveranstaltungsberatung der Studierenden verbunden wird. Diese institutionellen Formen der Qualitätssicherung sollten aus Ressourcengründen zwar eng mit den Personen und Organisationseinheiten, die für die Vorbereitung der Akkreditierungsverfahren verantwortlich sind, abgestimmt sein, darüber hinaus aber einem hochschuleigenen Qualitätsverständnis der Hochschulen dienen.


Der Studiengang ist die für die Lehre entscheidende institutionelle Ebene. Zum einen werden die allgemeinen Lehr- und Lernziele einer Hochschule im Studiengang unter Berücksichtigung der Standards von Hochschule, Fakultäten bzw. Fachbereichen zwischen den Lehrenden und Lernenden umgesetzt. Hier müssen die Lehrenden den Lernzielen angemessene Module und Lehrformen entwickeln, miteinander abstimmen und den Studierenden nahe bringen bzw. sie dafür gewinnen. Darüber hinaus finden im Studiengang Lehrende und Lernende einen überschaubaren sozialen Ort, an dem sie wechselseitig inhaltliche Anforderungen an Studium und Lehre besprechen und Probleme in Studium und Lehre diskutieren können. Im Eigeninteresse der Institution "Hochschule" sollten die Studierenden geradezu ermutigt werden, das Zusammenwirken der verschiedenen Elemente des gesamten Studiengangs (Lehrkonzeption, Ressourcen, Raumgestaltung etc.) zu bewerten. Vor diesem Hintergrund sollten die Hochschulen diese Handlungsebene und deren Verantwortliche, z.B. Studiendekane, stärken und ggf. durch externe Beratung unterstützen lassen, denn letztlich müssen diese Funktionsträger neue Ansprüche an die Qualität der Entwicklungs- und Lehrprozesse umsetzen.Auch die Entwicklung der Lehrkompetenzen und -strategien der Lehrenden muss sich an den Erfordernissen dieser dezentralen institutionellen Ebene ausrichten, denn hier müssen sich Resultate aller Anstrengungen zur Qualitätsverbesserung in der Lehre niederschlagen und das Zusammenspiel aller Lehrenden sowie der Dialog mit den Studierenden gefördert werden.


Die individuelle Lehrkompetenz ist eine wesentliche Qualifikation der Wissenschaftler/-innen in den Hochschulen, insbesondere der Professorinnen und Professoren. Sie muss in den Qualifizierungswegen des wissenschaftlichen Nachwuchses und in Berufungsverfahren der Professorinnen und Professoren einen größeren Stellenwert erhalten. Feedback von Studierenden (Lehrveranstaltungsevaluationen), Diskussionen über Lehrerfahrungen im Kollegium sowie die Wahrnehmung regelmäßiger Weiterbildungs- und vor allem Coachingangebote (von internen, externen oder hochschulübergreifenden Anbietern) tragen im Zusammenwirken - so erste Erfahrungen - zur Vergrößerung einer studierendenzentrierten Lehrkompetenz einer steigenden Zahl von Lehrenden an den Hochschulen bei. Insbesondere für Neuberufene sollten spezielle Programme entwickelt werden. Entscheidend für die nachhaltige Sicherung der Qualität der Lehre ist die Habitualisierung einer Lehrstrategie, die auch in schwierigen Situationen handlungsleitend bleibt. In diesem Sinne sollte eine systematische und praxisnahe didaktische Qualifizierung den Lehrenden ermöglichen, unter vielfältigen Lehr- und Lernformen diejenigen auszuwählen bzw. zu befördern, die den Lernzielen der Curricula auf der einen Seite und den Kenntnissen und Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen studentischen Lerngruppe auf der anderen Seite gerecht werden.


3. Bereitschaft zur Verantwortung für den eigenen Lernprozess: Die Rolle der Studierenden in der Lehre


Studierende sind Teil der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, sie gestalten diese mit und übernehmen vor diesem Hintergrund im Studiengang (Mit-) Verantwortung für das eigene Lernen.


Diese Mit-Verantwortung für das eigene Lernen, die je nach vorhergehenden Lernerfahrungen zunächst neu, ungewohnt und beunruhigend sein kann, muss von den Hochschulen ausdrücklich gefördert werden. Die Studierenden übernehmen grundsätzlich eine Verantwortung für ihre eigenen Lernfortschritte. Hierzu gehören Engagement, Interesse und Neugier im und für das Studium. Insbesondere die Bildung sozialer Netzwerke der Studierenden kann der Entwicklung wissenschaftlicher Kompetenzen und auch der Persönlichkeitsentwicklung dienlich sein.


Effektives und nachhaltiges Lernen setzt ein hohes Maß an intrinsischer Arbeits- und Studienmotivation der Studierenden voraus. Moderne Auswahlverfahren helfen den Studierenden, ihre Motivation und Begabung für einen bestimmten Studiengang zu prüfen und - im Sinne eines self-assessment -die für sie "richtigen" Studienprogramme zu finden. Hierüber können Abbruchraten gesenkt und die Studienerfolgsquote deutlich erhöht werden.


Angemessene Vorkenntnisse und studienadäquate Arbeitstechniken erleichtern das Studium. Allerdings sind in den nächsten Jahren zunehmend unterschiedliche Lernvoraussetzungen der Studierenden zu erwarten (ungewöhnliche Lernbiographien, Migration, Hochschulzugang für Nicht-Abiturienten) In erster Linie haben die Schulen eine "Bringschuld", Fachwissen und -kompetenzen, insbesondere aber auch Arbeitstechniken und Lernstile zu vermitteln, die auf eigenverantwortliches Lernen im Studium vorbereiten. Aber zur Entlastung der Lehrveranstaltungen des ersten Studienjahres können Brückenkurse und Propädeutika in Verantwortung der Hochschulen im Ausnahmefall dazu beitragen, heterogene Vorkenntnisse anzugleichen.


4. Qualität gedeiht nur auf fruchtbarem Boden: Rahmenbedingungen guter Lehre und die Unterstützung der Länder hierzu


Eine studierendenzentrierte Lehre erfordert notwendigerweise die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen (personelle, institutionelle und räumliche); insbesondere müssen die Betreuungsrelationen in vielen Fächern deutscher Hochschulen deutlich verbessert werden, wenn die Qualität der Lehre sich weiterentwickeln soll. Erforderlich ist eine Anstrengung der Länder, die Hochschulfinanzierung um eine nicht kapazitätswirksame Qualitätskomponente zu ergänzen. Sie kann zunächst die Form eines Sonderprogramms haben, um den Einstieg in eine qualitätsorientierte Finanzierung der Lehre zu bieten. Zudem sollte die Förderung der Hochschul- und Unterrichtsforschung durch den Bund die praxisnahe Entwicklung und experimentelle Überprüfung neuer Lehr- und Beratungsstrategien einschließen. Ohne diese Unterstützung können die dargestellten Konzepte und die Anstrengungen der Hochschulen keine Früchte tragen.


Eine stärker als bisher auf das Individuum und seinen Lernprozess ausgerichtete Lehre setzt die Chance zur Einrichtung kleiner Lerngruppen voraus. Diese sind keine hinreichende, wohl aber notwendige Voraussetzung, weil kleine Gruppen den didaktischen Spielraum deutlich erhöhen, eine effektivere Umsetzung von Lehrstrategien ermöglichen und insbesondere die Durchführung kompetenzorientierter Prüfungsformen zulassen sowie den Studierenden aktivere Beteiligungsformen abverlangen. Schließlich fördern kleine Gruppen die Kooperation und Vernetzung der Studierenden.


Neben einer völlig unzureichenden Personalausstattung engt vor allem auch das aktuelle Kapazitätsrecht den Gestaltungsspielraum in den Studiengängen ein. Es normiert die Betreuungsrelationen in der Summe des Studiengangs und akzeptiert bestimmte Lehrformen in ihren Eigenheiten (z.B. Gruppengröße, mediale Vermittlung, spezifische Vor- und Nachbereitung) faktisch nicht. Der Senat der Hochschulrektorenkonferenz hat mit seinen "Eckpunkten für ein neues Kapazitätsrecht in einem auszubauenden Hochschulsystem" den Weg zu den notwendigen Reformen gewiesen, die den Hochschulen insbesondere endlich die Möglichkeit geben, profilorientiert die Betreuungsintensität über das staatlich vorgegebene Maß hinaus zu steigern.


Eigenständiges Lernverhalten wird nicht allein durch spezifische Lehrstrategien und -methoden unterstützt, sondern auch durch eine Bandbreite von Beratungs- und Unterstützungsangeboten für Studierende. Diese beziehen sich sowohl auf die Gestaltung des Lernprozesses selbst, als auch auf die Studienplanung und Berufsvorbereitung, z.B. Angebote zu Arbeits-, Präsentations- und Diskussions- bzw. Moderationstechniken. Die Arbeit der dezentralen und zentralen Studienberatungsstellen und der Career Services sowie aller Unterstützungsangebote jenseits der Lehre in den Studiengängen verbessern die Orientierung der Studierenden in einer außerordentlich komplex gewordenen Hochschul- und Berufswelt: Sie senken dadurch die Abbruchraten und steigern den Studienerfolg.


Effektives Lernen braucht Zeit und in gewissem Maß Muße. Beides haben nur Studierende, die nicht parallel zum Studium erwerbstätig sein müssen. Um den Zwang zur Erwerbstätigkeit zu mindern, muss die Studienfinanzierung dringend durch ein lange gefordertes und nicht zuletzt von der Wirtschaft angekündigtes Stipendiensystem ergänzt werden.


Zur Entwicklung umfassender didaktischer Kompetenzen in den Studiengängen ist eine institutionelle Unterstützung der Lehrenden unerlässlich. Sie wird von der individuellen Weiterbildung über die Unterstützung der Entwicklung neuer Studienprogramme in den Fakultäten bis zu hochschulübergreifenden Plattformen für den Austausch von Erfahrungen mit neuen Lehrkonzepten, didaktischen Weiterbildungsangeboten sowie Erkenntnissen einer lehrbezogenen Hochschulforschung reichen. Hochschulübergreifende Strukturen nach den Beispielen Baden-Württembergs und Bayerns oder der nordrhein-westfälischen Fachhochschulen, die zudem in der Trägerschaft der Hochschulen stehen, erscheinen dafür besonders geeignet. Diese Institutionen müssen eng mit den Studiengängen und Fachdisziplinen zusammenarbeiten und zugleich den neuesten Stand der Hochschul- und Unterrichtsforschung in ihren Angeboten berücksichtigen.