Empfehlung der HRK-Mitgliederversammlung am 8.11.2016
I. Problemlage
Die Promotionspraxis in der Medizin ist seit Längerem sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der breiteren Öffentlichkeit Kritik ausgesetzt. Die Bandbreite in der Qualität der medizinischen Promotionen in Deutschland ist groß, d. h. medizinische Dissertationen erfüllen vielfach nicht die Anforderungen an eine wissenschaftliche Forschungsarbeit, wie sie in anderen Fächern im Rahmen einer Promotion gestellt werden.
Dies hat dazu geführt, dass der Europäische Forschungsrat (European Research Council), der inzwischen weltweit anerkannte Standards in der europäischen Forschungsförderung setzt, Antragsteller mit einem deutschen Dr. med. nur zulässt, wenn seine Trägerin/sein Träger nachweist, eine Position innezuhaben, die einen PhD-äquivalenten Titel erfordert.[1] Europäische Standards für die Promotionsphase sind auch von der Europäischen Universitätsvereinigung (EUA) definiert worden; sie finden inzwischen eine breite Anerkennung in der Wissenschaftsgemeinschaft[2].
Ein zentrales Problem medizinischer Dissertationen ist die für die Medizin charakteristische Form der „studienbegleitenden Promotion“. Während Promotionsarbeiten in anderen Fächern in aller Regel nach dem Abschluss eines ersten wissenschaftlichen Studiums verfasst werden, das üblicherweise auch eine erste wissenschaftliche Arbeit beinhaltet, werden Promotionsvorhaben in der Medizin in den meisten Fällen bereits während des Studiums begonnen und weitestgehend bearbeitet. Hintergrund sind die lange Regelstudienzeit von über sechs Jahren und die sich unmittelbar an das Studium anschließende Facharztweiterbildung von in der Regel fünf bis sechs Jahren.
Die HRK hat sich zuletzt im Jahr 2012 zur Qualitätssicherung im Promotionsverfahren[3] geäußert. Dort wurde ausdrücklich festgehalten, dass Aussagen zur medizinischen Promotion „stärker fachbezogen“ und daher in einer separaten Entschließung erfolgen müssten. Aufgrund der Gesamtverantwortung der Hochschulleitungen für die Qualitätssicherung an Hochschulen legt die HRK nunmehr die folgenden Eckpunkte zur Reform der Promotionspraxis in der Medizin vor.[4]
II. Eckpunkte für eine qualitätsgesicherte Promotion in der Medizin
Die gegenwärtige Promotionspraxis in der Medizin ist vielgestaltig und beinhaltet an vielen Fakultäten auch bereits heute die Möglichkeit, eine strukturierte, qualitätsgesicherte Promotion in der Medizin zu absolvieren.
Diese partiellen Reformbestrebungen werden in der vorgelegten Empfehlung aufgegriffen. Ziel der Empfehlung ist es, Eckpunkte für eine hochwertige, wissenschaftsgeleitete und qualitätsgesicherte medizinische Promotion vorzulegen, die auch international als PhD-äquivalent anerkannt wird. Die Empfehlung geht von der Prämisse aus, dass Grundlage der medizinischen Promotion eine qualitativ hochwertige und eigenständige wissenschaftliche Leistung sein muss, die zu einem substanziellen Erkenntnisgewinn führt. Die Eckpunkte sollen dabei Raum für örtliche und fachliche Schwerpunktsetzungen und Besonderheiten belassen, dabei aber Standards formulieren, die eine medizinische Promotion erfüllen muss.
1. Struktur der Promotion in der Medizin
Die Bearbeitung des Promotionsvorhabens in der Medizin findet gegenwärtig in aller Regel überwiegend während des Studiums statt. Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige medizinische Promotion sowie ihre internationale Anerkennung als PhD-äquivalent ist jedoch, dass die Bearbeitung des Promotionsvorhabens im Wesentlichen erst postgradual, d. h. nach Abschluss des Studiums erfolgt. Damit ist gewährleistet, dass eine anspruchsvolle, zu einem substanziellen Erkenntnisgewinn führende Forschungsarbeit durchgeführt wird, die – wie in anderen Fächern auch – auf dem im Studium erworbenen Wissen aufbaut und zudem nicht mit der hohen zeitlichen Beanspruchung eines Medizinstudiums in Konflikt gerät.
Die postgraduale Fertigstellung setzt eine Vorbereitung auf die Promotion während des Studiums voraus, indem zusätzlich zum Regelstudium eine Einführung in wissenschaftliche Methoden und Arbeitstechniken erfolgt. Als weitere Vorbereitung und zugleich als Stärkung der wissenschaftlichen Ausbildung im Studium allgemein kann die Einführung einer wissenschaftlichen Studienarbeit dienen, die auch Grundlage einer Promotionsarbeit werden kann. Die Fertigstellung des Promotionsvorhabens, welches maßgeblich durch die Erarbeitung und Finalisierung der Dissertation gekennzeichnet ist, erfolgt in einer weiteren Promotionsphase nach Abschluss des Studiums.
Sowohl die promotionsvorbereitende Phase während des Studiums als auch die nach Abschluss des Studiums folgende Promotionsphase sollten – unter Beachtung der örtlichen Spezifika und Besonderheiten – weitgehend in Form von Promotionsprogrammen oder Promotionskollegs strukturiert werden.[5] Selbstverständlich kann die promotionsvorbereitende Phase während des Studiums auch postgradual nachgeholt werden.
2. Auswahlverfahren
Eine Strukturierung der medizinischen Promotionsphase geht mit einer Intensivierung der Betreuung sowie einer Vermittlung fachübergreifender Kompetenzen einher und stellt damit höhere Anforderungen an die Kapazitäten der Fakultät. Zugang zu einer strukturierten Promotion erhalten daher nur entsprechend überdurchschnittlich qualifizierte Studierende, die zusätzlich zum Regelstudium an einer Einführung in wissenschaftliche Methoden und Arbeitstechniken teilgenommen haben. Dabei ist sicherzustellen, dass die zu bearbeitenden Themen und Projekte den Anforderungen an eine selbständige wissenschaftliche Arbeit entsprechen.
3. Freistellung während des Studiums und Finanzierung
Wird die promotionsvorbereitende Heranführung an wissenschaftliche Methoden und Arbeitstechniken bereits während des Studiums erbracht, sind die Studierenden für diese Zeit vom Studium freizustellen. Die Freistellung sollte mindestens ein Semester umfassen, so dass sich die Studierenden in „Vollzeit“ der Einarbeitung in wissenschaftliche Methoden und Arbeitstechniken widmen können. Die im Rahmen der Promotionsvorbereitung aufgebrachte Zeit darf nicht auf die Regelstudienzeit des Medizinstudiums angerechnet werden. Die Unterbrechung des Studiums sollte möglichst durch ein Stipendium finanziert werden, welches zugleich Voraussetzung für die Aufnahme in ein strukturiertes postgraduales Promotionsprogramm sein sollte.
4. Betreuung
Die Betreuung der Doktorandinnen und Doktoranden sollte kollegial durch mindestens zwei wissenschaftlich adäquat qualifizierte Personen erfolgen. Die Modalitäten der Betreuung werden in einer Betreuungsvereinbarung festgehalten.[6] Diese umfasst dabei auch die Gestaltung regelmäßiger Feedback-Gespräche sowie mündlicher Zwischenreports der Doktorandin oder des Doktoranden. Die Qualität der Betreuung sowie das jeweilige Betreuungskonzept werden von der Fakultät regelmäßig evaluiert.
5. Qualifizierungsangebote
In der strukturierten Promotionsvorbereitung muss den Studierenden oder postgradual den Doktorandinnen und Doktoranden neben der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und guter wissenschaftlicher Praxis insbesondere auch eine übergreifende Methodenausbildung zukommen. Die verpflichtende und dokumentierte Teilnahme an einer bestimmten Anzahl unterschiedlicher, fachübergreifender Veranstaltungen sollte Teil der Betreuungsvereinbarung sein. Entsprechende Qualifikationsangebote sind sowohl für die promotionsvorbereitende Phase während des Studiums als auch für die postgraduale Promotionsphase vorzusehen. Dabei muss es möglich sein, dass die Qualifikationen auch erst vollständig nach dem Studium erworben werden können.
6. Anrechnung auf Facharztweiterbildung
Die Attraktivität einer Forschungstätigkeit nach dem Studium – und dazu zählen auch Promotionsarbeiten – hängt stark mit den Möglichkeiten der Anrechnung von Forschungstätigkeit auf die an das Studium folgende Facharztweiterbildung ab. Die Landesärztekammern sind mithin aufgefordert, Zeiten wissenschaftlicher Tätigkeit in angemessenem Umfang in die Facharztweiterbildung zu integrieren.[7][8]
III. Implikationen
Die Umsetzung der vorgelegten Eckpunkte wird eine Reihe von Implikationen nach sich ziehen, die auch seitens der zuständigen politischen Akteure bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen, Ziel- und Leistungsvereinbarungen berücksichtigt werden sollten.
1. Einbindung in Forschungsprojekte
Für eine qualitätsgesicherte medizinische Dissertation ist es wünschenswert, dass die Doktorandinnen und Doktoranden in aktuelle Forschungsprojekte an der Medizinischen Fakultät oder in medizinübergreifende interfakultäre Projekte der Universität eingebunden werden. Dies fördert die transdisziplinären Forschungsfähigkeiten der Promovenden und bietet den Fakultäten und Universitäten zugleich die Chance, sie über das Ende des Promotionsprojektes hinaus dauerhaft für die Forschung und für eine wissenschaftliche Karriere in der Medizin zu gewinnen.
2. Entwicklung neuer Laufbahnkonzepte
Zur Gewinnung und zur Sicherung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Medizin sollte eine Einbettung der qualitätsgesicherten Promotion in übergreifende Laufbahn- und Personalentwicklungskonzepte für eine wissenschaftliche Karriere in der Medizin angestrebt werden. Angesichts des geforderten Anspruchs an eine medizinische Promotion und ihren postgradualen Abschluss ist auch der Stellenwert der traditionellen Habilitation für den wissenschaftlichen Karriereweg in der Medizin zu überdenken.
3. Implementierung wissenschaftlicher Inhalte im Studium
Die Reduktion der Promotionsquote im Fach Medizin darf nicht dazu führen, dass diejenigen Medizinerinnen und Mediziner, die keine Promotion anstreben, während ihrer Ausbildung keine Berührung mit wissenschaftlichen Inhalten bzw. selbstständiger Forschungstätigkeit haben. Unabhängig davon, ob eine Medizinerin oder ein Mediziner in die Forschung oder die praktische Tätigkeit als Ärztin oder Arzt strebt, ist eine wissenschaftliche Grundausbildung im Hinblick auf eine spätere wissenschaftsgeleitete Praxis, die dem Leitbild des/der wissenschaftlich ausgebildeten Ärztin oder Arztes folgt, unabdingbar. Daher ist es erforderlich, im Medizinstudium Elemente wissenschaftlicher Ausbildung für alle Studierenden vorzusehen.
IV. Evaluation
Aufgrund ihrer institutionellen Verantwortung für die Qualitätssicherung werden die Hochschulleitungen nach einer angemessenen Frist die Modelle zur Qualitätssicherung der medizinischen Promotion überprüfen.
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[1] Siehe Informationen der Nationalen Kontaktstelle beim BMBF, Antragstellung
beim Europäischen Forschungsrat (ERC), 2015, S. 6 f.: „Ein medizinischer
Doktortitel wird bei der Antragstellung bei den Starting Grants und
Consolidator Grants nicht als PhD-Äquivalent akzeptiert. Hier macht der ERC
keinen Unterschied zwischen dem deutschen Dr. med. und dem
angelsächsischen MD. Mediziner/innen müssen daher zusätzlich eine Stelle
nachweisen können, die eine PhD-Äquivalenz voraussetzt (z. B. PostDoc-
Fellowship, Ruf auf eine Professur).“
[2] Vgl. die sogenannten Salzburg II-Empfehlungen der Europäischen
Universitätsvereinigung (EUA): www.eua.be/Libraries/publicationshomepage-
list/Salzburg_II_Recommendations.
[3] Zur Qualitätssicherung im Promotionsverfahren, Empfehlung des Präsidiums
der HRK an die promotionsberechtigten Hochschulen, 23.04.2012. Vgl. auch
die von der HRK initiierte Gemeinsame Erklärung zur Promotion in Europa:
www.hrk.de/positionen/gesamtlistebeschluesse/
position/convention/joint-declaration-on-doctoral-training-ineurope/.
[4] Die Eckpunkte richten sich gleichermaßen an die humanmedizinische und
zahnmedizinische Promotion.
[5] So auch HRK: Zur Qualitätssicherung im Promotionsverfahren, 23.04.2012,
S. 3.
[6] HRK: Zur Qualitätssicherung im Promotionsverfahren, 23.04.2012, S. 5.
[7] So auch DFG: Empfehlungen der Senatskommission für Klinische Forschung
„Strukturierung der wissenschaftlichen Ausbildung für Medizinerinnen und
Mediziner“, April 2010.
[8] DFG: Empfehlungen der Ständigen Senatskommission für Grundsatzfragen in
der Klinischen Forschung „Etablierung eines integrierten Forschungs- und
Weiterbildungs-Programms für „Clinician Scientists“ parallel zur
Facharztweiterbildung“, April 2015.