Beschluss des HRK-Präsidiums vom 26.4.2021
Die Gesundheitsversorgung steht wachsenden Komplexitäten gegenüber: Globalisierung, demographischer Wandel, digitaler und technologischer Fortschritt, zunehmende Diversität und Umsetzung von Inklusion. Gleichzeitig steigen die berechtigten Ansprüche der Gesellschaft im Sinne von Patientenzentrierung, Evidenzbasierung, Versorgungsdichte und -qualität, Verteilungsgerechtigkeit, Bezahlbarkeit, Datenschutz und Transparenz. Dem muss – neben den aus Forschung und Entwicklung erwachsenden Möglichkeiten einer modernen, technologiegestützten Medizin, Pflege-, Hebammen- und Therapiewissenschaft - mit hinreichender Bildung und Qualifizierung entsprechender Fachkräfte begegnet werden. Alle an einer lückenlosen Versorgungskette Beteiligten – ob Ärztinnen und Ärzte, medizinisch-therapeutisches Fachpersonal oder weitere Berufsgruppen – haben sich zunehmend kompetenzorientiert und vermehrt autonom nicht nur an der eigenen Spezialisierung auszurichten, sondern ebenso interdisziplinäre und interprofessionelle Handlungsfähigkeit sowie wissenschaftsgeleitete Innovationen zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund befindet sich die Akademisierung der Gesundheitsberufe - in Deutschland weit im Hintertreffen gegenüber den G7-Staaten, unseren unmittelbaren Nachbarländern und der übrigen EU – zurecht schon seit längerem auf der Empfehlungsagenda der politikberatenden Instanzen (WR 2012, HRK 2017). In den unterschiedlichen Berufsfeldern stellt sich der Umsetzungsgrad der Akademisierung deutlich zeitversetzt dar: z. B. in der Pflege ist die (Teil-)Akademisierung berufsgesetzlich bereits geregelt; die Therapieberufe verharren mittlerweile über Jahrzehnte in einer dysfunktionalen Parallelität (HVG und VAST 2018) von Ausbildung und – über Modellklauseln vorläufig legitimierten – Studiengängen; die Hebammenwissenschaft ist zwar auf europäisch-unions-rechtlicher Grundlage in vollständiger Überführung zur Akademisierung begriffen, aber immer noch ohne auskömmlich geregelte Finanzierungsgrundlage.
Die Akademisierung, verstanden als bedarfsabhängig partielle oder vollumfängliche Übertragung von Ausbildungsaufgaben in den Aufgabenbereich der Hochschulen, dient nicht nur der Anpassung der Berufsbilder an den oben geschilderten erhöhten Komplexitätsgrad (BMG 2020). Sie entspricht berufsrechtlichen Regelungen hinsichtlich Vorbehaltsaufgaben und soll zudem die Bildungsgänge und Karrieren attraktiver gestalten – nicht zuletzt durch Anhebung der bislang durchgängig gegenüber vergleichbar Qualifizierten anderer Berufsgruppen unterdurchschnittlichen Vergütung. Durch diese Anpassung könnte Deutschland unabhängiger von der Rekrutierung ausländischer Fachkräfte, bzw. in manchen Bereichen überhaupt erst interessant für Berufsmigranten aus dem europäischen Raum werden. Die Umsetzung der Akademisierung stellt zudem eine Grundvoraussetzung für eine konstruktive interprofessionelle Zusammenarbeit und den wissenschaftlichen Fortschritt in der Versorgung dar. Akademisches Selbstverständnis liefert nicht nur die Grundlage für reflexives professionelles Handeln und verantwortlich selbstgesteuertes lebenslanges Lernen. Es steigert die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten durch Evidenzbasierung und wirkt auch verbreiteten gesundheitsgefährdenden Einstellungen und Praktiken entgegen, die nicht bzw. nicht ausreichend wissenschaftsbasiert sind.
Das Präsidium der HRK appelliert daher nachdrücklich an die Politik, den Prozess der Akademisierung der Gesundheitsberufe deutlich zu beschleunigen, um hinsichtlich der dringend erforderlichen Ausprägung entsprechender wissenschaftlicher Disziplinen dem nationalen Bedarf gerecht zu werden und den internationalen Anschluss nicht gänzlich zu verlieren. Maßstab einer beschleunigten Akademisierung der Gesundheitsberufe bleibt dabei die jeweils zu erwartende Qualitätsverbesserung im Versorgungsgeschehen. Dass hierbei größere Schwierigkeiten zu überwinden sind als zum Beispiel im Rahmen der – in ähnlicher Weise durch europäische Normierungsvorhaben initiierten – Überführung der Ingenieursausbildung vor circa fünfzig Jahren, sei hierbei anerkannt und anhand der deutlich komplexeren Gemengelage kurz beleuchtet:
• Finanzierungsfragen stellen nicht nur auf Ressortebene der Politik (Gesundheit, Wissenschaft/Bildung) sowie zwischen Bund und Ländern ein komplexes Verflechtungsmuster dar, sondern berühren (über das Krankenhausfinanzierungsgesetz) auch die Sozialversicherungsträger bzw. die beteiligten Institutionen nach SGB V und SGB XI.
• Ein Roadmap-Prozess „Gesundheitsberufe 2025“ ist erforderlich, in dessen Rahmen ein Implementierungskonzept zur Akademisierung der Gesundheitsberufe entwickelt wird. Dabei sollte eine Stufenfolge der Akademisierung von Gesundheitsberufen mit jeweils zusätzlichen Ressourcenbedarfen für die Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen sowie für die Einrichtung und den Betrieb entsprechender Studiengänge erarbeitet werden, die den genannten Komplexitäten und unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Bildungsgänge und Berufsgruppen gerecht wird.
• Universitäten und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAWs)/Fachhochschulen sind mit den jeweiligen Stärken, Profilmerkmalen und einschlägigen Erfahrungen (Grundlagenforschung, Anwendungsorientierte Forschung, Lehre-Praxis-Verschränkung, Bezugswissenschaften aus den klinischen, sozialen oder technologischen Bereichen) in den anstehenden Transformationsprozess einzubeziehen. Dabei ist zu bemerken, dass die Hochschultypen bspw. in gemeinsamen Gesundheitscampi ihre Stärken, Profilelemente und Erfahrungen bereits zusammenführen und damit bedeutende Beiträge zur Entwicklung eigenständiger wissenschaftlicher Disziplinen und zur Umsetzung wissenschaftsgeleiteter Curricula in den Gesundheitsberufen leisten.
• Einer Rollen- und Zuständigkeitsklärung bedarf es bei den Versorgungsinstanzen des Gesundheitswesens (insbesondere Universitätsklinika, Regelversorgungshäuser, ambulante und Reha-Bereiche, Alten- und Pflegeeinrichtungen), nicht zuletzt um Versorgungs-, Effektivitäts- und Effizienzpotentiale der einzelnen Gesundheitsberufe heben zu können.
• Akademisierung muss sich vor dem Hintergrund einer zunehmend interprofessionellen Tätigkeit in der Ausprägung jeweils disziplineigener Theorien, Methoden und Forschungsparadigmen bewahrheiten. Diesbezügliche Rahmenbedingungen (Forschungsförderung, Promotionsprogramme, Karrierewege) gilt es aufzubauen und adäquat mit den etablierten und institutionalisierten Bezugsdisziplinen in Verhältnis zu setzen.
• Für einen Ausbau der hochschulischen Qualifizierung – in erster Linie in Form von primärqualifizierenden Studiengängen – muss die Disziplinentwicklung der Gesundheitsberufe ermöglicht und gefördert werden.
• Die Zukunft einer evidenzbasierten gesundheitlichen Daseinsfürsorge liegt in respektvoller und konstruktiver Kooperation, beginnend im Studium, über Forschung bis hin zum Berufsalltag. Letztlich wird ein verändertes Professionsverständnis ausgehandelt und eingeübt werden müssen.
Für eine wissenschaftlich geleitete, qualitätsgesicherte und ökonomisch effiziente Gesundheitsversorgung, für nachhaltig attraktive Arbeitsplätze und zukunftsfähige Berufsbilder bedarf es eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses und einer mehrdimensionalen Kraftanstrengung mit Wirkungen auf Normierungen, Zuständigkeiten und kulturelle Praktiken. Bislang fehlender Ausgangspunkt hierfür ist eine entsprechend klare politische Willensbekundung und Verantwortungsübernahme, gefolgt von bundespolitisch zu initiierenden, konzertierten Aktivitäten.
Das HRK-Präsidium hält daher eine deutliche Positionierung der Parteien im Rahmen des Bundestagswahlkampfes für unerlässlich und wirbt nachdrücklich für einen konstruktiven Dialog mit den Hochschulleitungen.
Quellen:
Bundesministerium für Gesundheit (2020) Eckpunkte der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Gesamtkonzept Gesundheitsfachberufe“,
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/G/Gesundheitsberufe/Eckpunkte_Gesamtkonzept_Gesundheitsfachberufe.pdf
Hochschulrektorenkonferenz (2017), Entschließung der 23. Mitgliederversammlung der HRK am 14. November 2017 in Potsdam Primärqualifizierende Studiengänge in Pflege-, Therapie- und Hebammenwissenschaften, Berlin und Bonn, https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/primaerqualifizierende-studiengaenge-in-pflege-therapie-und-hebammenwissenschaften/
Hochschulverband Gesundheitsfachberufe und Verband für Ausbildung und Studium in den Therapieberufen (2018) Notwendigkeit und Umsetzung einer vollständig hochschulischen Ausbildung in den Therapieberufen (Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie) - Strategiepapier, https://daten.verwaltungsportal.de/dateien/news/4/7/3/8/0/7/15f04285f1d29bc028f5e33f20ac4bc5_strategiepapier_2018_11.pdf
Wissenschaftsrat (2012) Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen, Drs. 2411-12 Berlin 13 07 2012, https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2411-12.pdf