Chance, nicht Last: Empfehlungen für einen "Hochschulpakt 2020" zur Bewältigung des zu erwartenden Anstiegs der Studierendenzahlen


Empfehlung des 206. Plenums vom 23.11.2005



Zusammenfassung:


Angesichts des zu erwartenden Anstiegs der Studierendenzahlen auf bis zu 2,67 Millionen im Jahr 2014 und des anhaltend hohen Niveaus bis zum Jahr 2020 schlägt die HRK einen "Hochschulpakt 2020" vor. Nur so kann der Entwicklung entgegengewirkt werden, dass die Hochschulen "in Notwehr" mit lokalen Zulassungsbeschränkungen auf den Studierendenandrang reagieren.


Der Pakt soll die Fähigkeit der Hochschulen erhöhen, eine größere Anzahl von Studierendenanfängern aufzunehmen und innerhalb des Bologna-Prozesses trotz der höheren Prüfungsbelastung die Studierenden bei hoher Ausbildungsqualität verlässlich zu einem erfolgreichen Abschluss des Studiums zu bringen. Die Schaffung besserer qualitativer und quantitativer Rahmenbedingungen für Studieninteressierte ist die einzige Chance, die deutsche Hochschulbildung im internationalen Wettbewerb voranzubringen.


Die HRK ist bereit, mit der Gesamtheit der Bundesländer unter Einbeziehung des Bundes in einen Aushandlungsprozess über folgende Maßnahmen einzutreten:

I. Aufgrund der nachhaltigen Erhöhung der Studierendenzahlen ist die Aufstockung zum einen des Lehrpersonals durch unbefristete Stellen zum anderen der sächlichen und räumlichen Ressourcen erforderlich. Insbesondere sollten 8.000 ab 2015 frei werdende Professorenstellen sofort besetzt werden, so dass für den gesamten Zeitraum erhöhter Studierendenzahlen eine doppelte Besetzung von Professuren möglich ist. Die ursprünglichen Haushaltsansätze für den Hochschulbau müssen zunächst wieder hergestellt werden, dann auf das vom Wissenschaftsrates geforderte Volumen von 2,7 Milliarden ansteigen und entsprechend dem Lehrbedarf weiter ausgebaut werden.

II. Die angestrebten Qualitätsstandards müssen insbesondere hinsichtlich des Bologna-Prozesses gewährleistet werden. Der Bologna-Prozess bietet keine Reserve zur Bewältigung des Studierendenandranges. Die Hochschulen werden nur bei einer verbesserten Ausstattung die Verpflichtung zur zügigen Erreichung der Bologna Ziele eingehen und ihrerseits weitere Strukturmaßnahmen für ein effektives und effizientes Studium schaffen.

III. Die Hochschulen sind bereit, die Aktivitäten zur Beratung und Betreuung bei Studienwahl, Studium und Berufseintritt zu intensivieren sowie für eine schnelle und flächendeckende Etablierung entsprechender Strukturen zu sorgen. Die HRK erwartet, dass die Zusammenarbeit mit den hier beteiligten Akteuren ausgebaut wird und der Staat diese Bemühungen auch finanziell unterstützt und begleitet.

IV. Der Tatsache, dass derzeit circa 600.000 Studierende nur einen Teil ihrer Arbeitszeit für das Studium aufbringen, muss durch geeignete - insbesondere staatliche - Rahmenbedingungen, die für ein Teilzeitstudium notwendig sind, Rechnung getragen werden. Dies kann zum optimierten Einsatz der Ressourcen beitragen

1. Sachverhalt


Auf der Grundlage der "KMK-Prognose der Studienanfänger, Studierenden und Hochschulabsolventen bis 2020" vom 14. Oktober 2005 entsteht folgendes Gesamtbild für die künftige Entwicklung der Studierendenzahlen bis 2020:

  • Die Zahlen der Studienanfänger werden bis zum Jahr 2011 auf 394.000 bis 437.000 ansteigen. Dies bedeutet gegenüber dem Wert von 358.000 in 2004 eine Erhöhung von 10 bis 22 Prozent. Die Anfängerzahlen werden für alle Hochschularten bis 2020 deutlich über dem heutigen Niveau bleiben.
  • Die Studierendenzahlen werden stetig von 1,96 Millionen im Jahr 2004 auf 2,41 bis 2,67 Millionen im Jahr 2014 ansteigen. Dies entspricht einer Steigerung von 23 bis 36 Prozent. Für alle Hochschularten verbleiben die Studierendenzahlen bis 2020 auf hohem Niveau.

Die KMK-Prognose setzt weitgehend die aktuellen Parameter konstant. So bleiben folgende relevante Aspekte unberücksichtigt:

  • die sich bereits vollziehende Einführung der gestuften Studienstruktur (Bachelor- und Masterstudiengänge bilden bereits im Wintersemester 2005/2006 34% des Gesamtstudienangebots)
  • die zu erwartende Einführung von Studienbeiträgen sowie
  • eine eventuelle Abschaffung der Wehrpflicht inklusive des Ersatzdienstes.

Wenngleich die Prognose nach dem Jahr 2020 einen geringen Abfall der Zahlen vorhersagt, ist diese Erwartung gänzlich ungesichert. Ihr steht ein weltweiter Trend einer zunehmenden Akademisierung entgegen, dessen Wirkung heute nicht quantitativ beschrieben werden kann.


Hinsichtlich der tatsächlich eintretenden Studierendenzahlen ist es wahrscheinlich, dass die Hochschulen mit Hilfe von lokalen Zulassungsbeschränkungen quasi "in Notwehr" den prognostizierten Anstieg der Studierendenzahlen zu bewältigen versuchen werden.


2. Bildungspolitische Ziele


Es ist eine absolut vorrangige Aufgabe, Aufnahmeberechtigten auf die Hochschulen angemessene Ausbildungschancen einzuräumen. Das sich abzeichnende Szenario, wonach die Hochschulen mit Hilfe von ad-hoc-Maßnahmen wie lokalen Zulassungsbeschränkungen versuchen werden, dem Zustrom von Studierenden Einhalt zu gebieten, wird zudem in keiner Weise den bildungspolitischen Herausforderungen gerecht, denen sich Deutschland gegenüber sieht:


Nach der letzten OECD-Studie vom September 2005 rangiert Deutschland im internationalen Vergleich (Stand 2003) mit einem Studienanfängeranteil von 36 Prozent eines typischen Altersjahrgangs weit abgeschlagen auf dem 21. Platz. Große Wirtschaftsnationen wie die USA, das Vereinigte Königreich oder Japan verzeichnen dem gegenüber einen Studienanfängeranteil von 65 bis 42 Prozent.


Der bevorstehende Andrang von Studienbewerbern bietet daher die Chance, die Studienanfängerquote auf 41 bis 45 Prozent zu erhöhen und damit die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Kontext erheblich zu verbessern. Voraussetzung dafür ist, dass die Hochschulen in die Lage versetzt werden, eine entsprechende Anzahl von Studieninteressierten aufzunehmen, auszubilden und sie nicht zuletzt dem Wirtschaftsstandort Deutschland als qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.


Die quantitative Steigerung der Studierenden- und Absolventenzahlen darf jedoch keinesfalls zu Lasten der Ausbildungsqualität an Hochschulen gehen. Insbesondere müssen Staat und Hochschulen daher insbesondere am gemeinsamen Vorhaben der Umsetzung der Ziele des europaweiten Bologna-Prozesses festhalten, zu dessen Essenz im nationalen Kontext auch die Steigerung der Qualität der Ausbildung gehört, u. a. durch die Implementierung berufsvorbereitender Kompetenzen und innovativer Lehr- und Lernformen.


Werden die Chancen einer Steigerung des Akademikeranteils nicht wahrgenommen und nicht umgehend abgestimmte Maßnahmen von Staat und Hochschulen in Angriff genommen, droht für künftige Studierendengenerationen entweder die Einschränkung der Chancen auf ein Studium oder eine weitere drastische Verschlechterung der Studienbedingungen. Außerdem ist in dem Fall eine weitere Verstärkung des Trends zur Abwanderung der "besten Köpfe" ins Ausland zu befürchten. Das gemeinsame bildungspolitische Ziel des Staates und der Hochschulen, wissenschaftliche Ausbildung für die sich entwickelnde Wissensgesellschaft in Quantität und Qualität im nationalen und internationalen Kontext deutlich zu verbessern, würde durch ein solches Szenario konterkariert werden.


3. Hochschulpolitische Verantwortung


Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Andranges von Studienbewerbern müssen sowohl der Staat als auch die Hochschulen ihrer politischen Verantwortung gerecht werden und koordinierte Maßnahmen ergreifen. Als Rahmen hierzu schlägt die HRK einen "Hochschulpakt 2020" zwischen Staat und Hochschulen, vertreten durch die HRK vor. Als Partner auf staatlicher Seite sind die Bundesländer gefordert, der Bund sollte unter Nutzung der Möglichkeiten, die die Vereinbarungen zur Föderalismusreform schaffen, beteiligt sein.


4. Anstrengungen von Staat und Hochschulen


Zum Abschluss eines "Hochschulpaktes 2020" ist die HRK bereit, in einen Aushandlungsprozess einzutreten. Die Hochschulen halten folgenden Maßnahmen für unbedingt erforderlich:


4.1. Erhöhung der personellen, sächlichen und räumlichen Hochschulkapazitäten


Die prognostizierten hohen Studierendenzahlen erfordern eine Verstärkung des wissenschaftlichen Lehrpersonals. Dabei handelt es sich bei der Erhöhung der Studierendenzahlen um keine kurzfristige Entwicklung von wenigen Jahren sondern um ein mindestens bis zum Jahr 2020 anhaltendes Niveau, das sich durchgehend über dem heutigen Stand bewegt. Eine Erhöhung des Personals durch befristete Lehrverträge ist deshalb keine adäquate Antwort. Um eine qualifizierte Lehre sicherzustellen, schlägt die HRK so genannte "Vorziehprofessuren" nach dem Vorbild des Sonderprogramms "Fiebiger Professuren" vor. Circa 8.000 Professuren, die eigentlich erst ab 2015 frei werden, sollten sofort neu ausgeschrieben und damit für den gesamten Zeitraum erhöhter Studierendenzahlen doppelt besetzt werden können. Dieses derzeit auch in Österreich erfolgreich praktizierte Modell trägt nicht nur dem ohnehin anstehenden Generationswechsel Rechnung, sondern gewährleistet auch eine ausgewogene Alterstruktur bei den Professoren und eröffnet dem hoch qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs eine verlässliche Perspektive in Deutschland.


Zusätzlich ist eine verstärkte Ausstattung mit wissenschaftlichem Personal erforderlich. Nur so wird es möglich, die im Zuge der Bologna-Reform entstehenden Mehrbelastungen durch studienbegleitende Prüfungen aufzufangen. Andernfalls wäre die Bologna-Reform gefährdet.


Hinsichtlich der Herausforderungen an die baulichen und technischen Ausstattungen, die sich durch den Studierendenandrang ergeben, muss kurzfristig dem aktuellen Konsolidierungsbedarf an den Hochschulen nachgekommen werden. Dies erfordert zunächst die Wiederherstellung der Haushaltsansätze von 2,2 Milliarden Euro aus 2001 und 2002 für den Hochschulbau, für den derzeit nur 1,9 Milliarden Euro von Bund und Ländern zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus muss das vom Wissenschaftsrat bereits für 2005 empfohlene Investitionsvolumen von 2,7 Milliarden Euro schnellstmöglich erreicht und für die weiteren Jahre ausgebaut werden.Mit Blick auf die geplante Föderalismusreform gilt es zudem sicherzustellen, dass die Länder die vom Bund veranschlagten Ansätze erhalten und diese Mittel nicht zur Konsolidierung der Länderhaushalte verwenden. Die erforderlichen baulichen Maßnahmen für einen expandierten Lehrbetrieb sind ab sofort zu planen, damit sie in wenigen Jahren realisiert werden und Wirkung zeigen.


4.2. Gewährleistung der angestrebten Qualitätsstandards


Bei der angestrebten Erhöhung der Hochschulkapazitäten zur Bewältigung des Studierendenandrangs darf die Qualität der wissenschaftlichen Ausbildung nicht beeinträchtigt werden. Auch daher stellen weder die befristete Einstellung von Lehrpersonal noch der verstärkte Einsatz von Lehrbeauftragten eine problemadäquate Lösung dar.


Besonders gilt die Einhaltung der Qualitätsstandards für den europaweit laufenden Bologna-Prozess. Durch die gestufte Studienstruktur ist eine Verkürzung der tatsächlichen Studiendauer auf die Regelstudienzeit zu erwarten. Dies hat jedoch keine Verringerung des Personalbedarfs zur Folge. Eine belastbare Vorhersage für die Übergangsquote von Bachelorabsolventen in Masterstudiengänge sowie in den Arbeitsmarkt ist derzeit fachübergreifend noch nicht möglich. Voraussetzung für eine Verkürzung der Studiendauer und den Erfolg des Bachelor auf dem Arbeitsmarkt ist jedoch eine bessere Betreuung der Studierenden, die über die Fachkompetenzen hinaus berufsvorbereitende Kompetenzen erwerben müssen. Dies erfordert - ebenso wie die Einführung innovativer Lehr- und Lernformen, studienbegleitende Prüfungen und eine intensive Beratung - eine Verstärkung des wissenschaftlichen und administrativen Personals.


Die Bologna-Reform wäre in ihrem zentralen Anliegen gefährdet, wenn diese Tatsache nicht berücksichtigt würde. Die Bologna-Reform bietet daher keine Personalreserve zur Bewältigung des Studentenberges. Eine Lösung kann daher nur durch die Bereitstellung zusätzlicher Mittel durch den Staat gesichert werden. Anderenfalls wären die Hochschulen gezwungen, entweder ihre Aufnahmekapazitäten zu senken, oder aber die Qualität der Ausbildung der Quantität der Studierenden zu opfern. Die Hochschulen werden im Rahmen eines "Hochschulpaktes 2020" die Verpflichtung zur zügigen Erreichung der Bologna-Ziele auch bei erhöhten Studierendenzahlen nur für die Gegenleistung einer verbesserten Ausstattung eingehen. Außerdem werden sie weitere organisatorische Strukturen und Verfahren für ein effektives und effizientes Studium schaffen.


4.3. Beratung und Betreuung bei Studienwahl, Studium und Berufseinstieg


Wichtige Rahmenbedingungen für eine hochwertige wissenschaftliche Ausbildung und ein effizientes Studium betreffen die Phasen des Studieneintritts, des Studiums selbst und des Berufseinstiegs nach dem Studium. Zu allen diesen Phasen sind die Hochschulen bereit, ihre bereits begonnenen Aktivitäten zu intensivieren sowie schnell und flächendeckend zu etablieren. Dies gilt für die Beratung von Studieninteressierten in den Schulen, für die Betreuung und Beratung der Studierenden während des Studiums und für Dienstleistungen der Hochschulen zur Erleichterung des Berufseinstiegs von Absolventen. Auf diesem Feld arbeitet die HRK im Rahmen des Netzwerks "Wege ins Studium" eng mit der Bundesagentur für Arbeit, dem Deutschen Studentenwerk, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, dem Bundeselternrat und der KMK zusammen und hofft auf den Ausbau dieser Aktivitäten. Die HRK erwartet, dass im Rahmen des "Hochschulpaktes 2020" der Staat diese Bemühungen auch finanziell unterstützt und begleitet.


4.4. Institutionalisierung des Teilzeitstudiums


Zurzeit wenden ca. 600.000 Studierende de facto nur einen Teil ihrer Arbeitszeit für das Studium auf und gehen in der restlichen Zeit familiären sowie beruflichen Verpflichtungen nach. Dennoch kann Ihnen kein besonderer Status hinsichtlich der Inanspruchnahme von Hochschulangeboten und ggf. dafür zu entrichtender Beiträge eingeräumt werden, weil es an begleitenden staatlichen Rahmenbedingungen - insbesondere hinsichtlich des BAFöG, des Kindergeldes und der Krankenversicherung - fehlt. Die Hochschulen sind bereit, durch die Institutionalisierung des Teilzeitstudiums die tatsächlichen Belastungen der Hochschulen transparent zu machen, um somit etwaige Optimierungspotenziale bei der Aufnahme von Studierenden zu nutzen und vielen Studierenden eine angemessene zeitliche Verteilung des studentischen Arbeitsaufwandes (work load) zu ermöglichen.


5. Fazit


Der unmittelbar bevorstehende Andrang von Studienbewerbern zwingt sowohl den Staat als auch die Hochschulen zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung, die in einem "Hochschulpakt 2020" gebündelt werden kann. Das vorgeschlagene gemeinsame Maßnahmenpaket hat jedoch nicht nur das Potenzial, den drohenden Bildungskollaps zu verhindern, sondern stellt auch die einzige Chance dar, die deutsche Hochschulbildung im internationalen Wettbewerb nicht zurückfallen zu lassen.