Empfehlung der Mitgliedergruppe Universitäten der Hochschulrektorenkonferenz (Berlin, 13.11.2023)
Beschlossen auf der 81. Sitzung der Mitgliedergruppe Universitäten in der Hochschulrektorenkonferenz
Inhaltsverzeichnis
1. Die Lehrer:innenbildung muss universitär erfolgen und benötigt einen Umfang von 300 Leistungspunkten.
2. Die Bildungswissenschaften müssen forschungsorientiert ausgerichtet und universitär verankert sein.
3. Die Fachdidaktiken stellen einen Kernbereich der Lehrer:innenbildung dar. Sie müssen professoral vertreten sein.
4. Die Erfahrungen in der Schulpraxis sind konstitutiv für die Entwicklung einer erfolgreichen Lehrpersönlichkeit. Damit diese Erfahrungen Raum für Integration von Wissen und Praxis bieten können, müssen sie systematisiert und ins Studium integriert erfolgen.
5. Die Kooperation zwischen der ersten und der zweiten Phase der Ausbildung muss gelingen.
6. Der Zugang zum Lehrberuf sollte flexibilisiert werden.
7. Die Fort- und Weiterbildung von Lehrer:innen ist Aufgabe der Universitäten.
8. Eine regionen-, schulfächer- und länderspezifischeLehrer:innenquote für Brennpunktschulen sollte eingeführt werden.
Die gesellschaftliche Bedeutung wissenschaftlich hochwertig ausgebildeter Lehrer:innen für die nachkommende Generation eines Landes ist außerordentlich. Die Weitergabe gesellschaftlichen und fachlichen sowie berufsbezogenen überfachlichen Wissens liegt ebenso in den Händen von Lehrer:innen wie die Entwicklung von Handlungskompetenz und Entscheidungen über individuelle Bildungschancen. Darüber hinaus übernehmen sie wesentliche Aufgaben im Zusammenhang von Sozialisation und Integration in das gesellschaftliche Leben. Gerade in einer Wissensgesellschaft wie der unseren sind kompetente und ausreichend viele Lehrer:innen unabdingbar für soziale Gerechtigkeit, die Unterstützung gelingender Bildungsbiografien und gesellschaftlichem Wohlstand.
Entsprechend kritisch sind die aktuellen Prognosen zum tatsächlichen Bedarf an Lehrer:innen in Deutschland. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) wies zu Beginn des Jahres 2023 auf einen besorgniserregenden Mangel an Lehrer:innen in bestimmten Bundesländern, Schulstufen und Fächern hin. Die Lehrkräftebildung steht unter hohem Innovationsdruck. Wissenschaft und Bildungsadministration müssen daher eng kooperieren.
Zahlreiche Verbände, Institutionen und Landesregierungen entwickeln aktuell Vorschläge und Modelle als Reaktion auf diese Notlage. Gemeinsames Ziel dieser Modelle ist es, eine breitere Grundlage für den Zugang zum Lehrberuf zu ermöglichen und gleichzeitig die hohe Qualität der Lehrer:innenbildung in Deutschland zu sichern. Die Vielzahl der – teilweise sehr kontrovers diskutierten – Modelle bietet einerseits ein hohes Innovationspotenzial. Andererseits besteht jedoch zugleich die Gefahr, durch die Vielfalt der Modelle Mobilitäten zwischen Schulstufen, Bundesländern oder Staaten zu behindern und so die Notlage weiter zu verschärfen.
Aus diesem Grund möchte die Mitgliedergruppe Universitäten in der HRK mit diesem hier vorgestellten Positionspapier keinen weiteren Vorschlag und kein weiteres Modell hinzufügen. Stattdessen besteht die primäre Intention in der Benennung von Anforderungen an die allgemeinbildende wie auch berufliche Lehrkräftebildung, an denen entlang sich dezentrale Modelle orientieren sollten.
Wir sind uns über folgende Anforderungen einig:
1. Die Lehrer:innenbildung muss universitär erfolgen und benötigt einen Umfang von 300 Leistungspunkten.
Lehrer:innen kommt eine besondere Stellung in der Heranbildung mündiger und kritisch reflektierender Staatsbürger:innen zu. Dazu müssen die Studierenden und im Lehramt tätige Personen nicht nur ein fachwissenschaftliches, fachdidaktisches und bildungswissenschaftliches Studium, sondern auch reflektiert begleitete praxisbezogene Phasen in ausreichendem Umfang absolvieren. Insbesondere in den Fachwissenschaften muss neben dem Wissen auch ein fundiertes Verständnis für Methoden und Grenzen angeeignet und nachgewiesen werden. In Zeiten der Fakenews und des schnellen Wandels in den Wissenschaften ist dies dringender denn je erforderlich.
Das qualitätsgesicherte universitäre Studium für Lehrer:innen ist grundlegend. Es muss in einem Umfang von 300 Leistungspunkten erfolgen. Darin sind in ausreichendem Maße die drei Säulen Bildungs-, Fachwissenschaft und Didaktik zu studieren. Nur so kann den hohen Anforderungen der späteren Berufstätigkeit Rechnung getragen werden.
2. Die Bildungswissenschaften müssen forschungsorientiert ausgerichtet und universitär verankert sein.
Das bildungswissenschaftliche Studium bildet einen zentralen, konstitutiven Bestandteil der Lehrer:innenbildung. Denn hier erwerben Studierende nicht nur das notwendige wissenschaftliche Wissen und die Fähigkeiten zur kriteriengeleiteten Wahrnehmung, Analyse und Reflexion schulischer und außerschulischer Praxen, sondern sie werden ebenso befähigt, wissenschaftlich abgesicherte und somit begründete Handlungsalternativen zu entwickeln. Dies erfordert eine aktive und forschungsorientierte Auseinandersetzung der Studierenden mit bildungs-, schul- und unterrichtsbezogenen Fragestellungen, geleitet von dem Anspruch eines gleichermaßen wissenschaftlichen wie professionsbezogenen Studiums.
Die Vermittlung dieser wissenschaftlichen Grundlagen und Fähigkeiten erfolgt dabei aus einer fachübergreifenden Perspektive im Zusammenwirken unterschiedlicher universitärer (Anteils-) Disziplinen, nämlich Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Philosophie oder Bildungsökonomik. Denn erst die Befassung mit verschiedenen disziplinären Perspektiven und Forschungszugängen ermöglicht die Einlösung bildungswissenschaftlicher Standards für fachübergreifendes Lehren und Lernen und die Einnahme spezifischer Blickwinkel auf Schule, Unterricht, Gesellschaft und Individuum. Diese spezifische Form der disziplinären Konstituierung an Universitäten stellt somit eine notwendige Voraussetzung für das bildungswissenschaftliche Studium und die Professionalisierung angehender Lehrer:innen dar.
Im Rekurs auf disziplinäre Theorien, Diskurse und Forschungsbefunde werden die Grundlagen für professionelles Handeln von Lehrer:innen gelegt, das – im Gegensatz zum praktischen Handeln – immer auch einer Begründungsverpflichtung unterliegt und somit auf wissenschaftliche und forschungsbasierte Erkenntnisse Bezug nimmt. Studien verdeutlichen die Notwendigkeit zur Grundlegung dieser Wissensbestände und zur Anbahnung einer entsprechenden wissenschaftsbasierten Reflexionskompetenz bei Studierenden. Dies gilt auch für die bildungswissenschaftlichen Anteile an der Ausgestaltung der Praxisphasen. Diese Anforderungen erfüllen gerade die Universitäten aufgrund ihrer hohen Forschungsverpflichtung und -ausrichtung in besonderer Weise.
3. Die Fachdidaktiken stellen einen Kernbereich der Lehrer:innenbildung dar. Sie müssen professoral vertreten sein.
Fachliches Lehren und Lernen wird von den Fachdidaktiken auf spezifische Weise adressiert. Für die Professionalisierung angehender Lehrer:innen haben die Fachdidaktiken damit eine zentrale Bedeutung.
Empirische Studien belegen, dass eine fachdidaktische Professionalisierung angehender Lehrer:innen sowohl wissenschaftlich begründetes Wissen als auch daran ausgerichtete Ansätze und Konzepte erfordert. Zudem zeigen sie, welche Wirkung fachdidaktisches Wissen und Können auf die Qualität fachlichen Lehrens und Lernens hat. Die erste Phase im Professionalisierungsprozess legt hierfür den Grundstein. Sie schließt die im fachdidaktischen Studium integrierten Praktika mit ein, d. h. als praxisbezogene Studienabschnitte sollten diese die Anbahnung einer wissenschaftlich-reflexiven Grundhaltung unterstützen. Die Grundlegung einer solchen Haltung als Basis einer überdauernden wissenschafts- und forschungsorientierten Hinwendung muss primäres Ziel des fachdidaktischen Studiums sein. Dies gilt analog für das bildungswissenschaftliche Studium.
Um der Bedeutung der Fachdidaktiken für Schule und Unterricht besser gerecht zu werden, muss die an den Universitäten in den letzten zwei Jahrzehnten bereits gut etablierte Forschung gezielt weiterentwickelt werden. Dazu notwendig sind als solche ausgewiesene Fachdidaktik-Professuren, die die entsprechende Expertise haben und den nötigen Raum zur Forschung erhalten, um sowohl der Forderung nach Sicherung und Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses nachkommen als auch die Qualität des fachdidaktischen Studiums sicherstellen zu können. Letzteres erfordert zudem die Orientierung an wissenschaftlich gesetzten fachlichen und fachdidaktischen Standards.
4. Die Erfahrungen in der Schulpraxis sind konstitutiv für die Entwicklung einer erfolgreichen Lehrpersönlichkeit. Damit diese Erfahrungen Raum für Integration von Wissen und Praxis bieten können, müssen sie systematisiert und ins Studium integriert erfolgen.
Anders als in vielen anderen Studiengängen ist das spätere Arbeitsumfeld in der Lehrer:innenbildung bereits während des Studiums bekannt: die Schule. Eine zeitgemäße Lehrer:innenbildung sollte daher unmittelbare Bezüge zu dieser herstellen und in den verschiedenen Studienphasen die Akteure miteinander vernetzen. Sowohl im bildungswissenschaftlichen als auch im fachdidaktischen Bereich sollten solche praxisbezogenen Studienanteile zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Reflexionskompetenz genutzt werden.
Die Modelle der Bundesländer, wie diese aktuell den Praxis- und Berufsfeldbezug herstellen, sind vielfältig – in Umfang und Form. Auf der Basis bisheriger Diskurse und Erkenntnisse dürfen Praktika nicht losgelöst von anderen Studienelementen gesehen werden. Sie erfordern eine didaktische Einbettung und Begleitung, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Insofern erfüllt die einfache Anrechnung von Vertretungsunterricht dies nicht.
5. Die Kooperation zwischen der ersten und der zweiten Phase der Ausbildung muss gelingen.
Eine engere Verzahnung der beiden Ausbildungsphasen ist entscheidend für die erfolgreiche Professionalisierung von Lehrer:innen. Studierende nehmen häufig die Universität und die Trägerinstitution der zweiten Phase als getrennte Welten wahr. Sie manifestieren in ihrem Blick die Welten „Theorie“ und „Praxis“. Dies behindert eine kritische und wissenschaftsgeleitete Reflexion des eigenen Handelns im schulischen Kontext, zumal die dritte Institution, die Schule, in dieser Aufteilung keine eigenständige Rolle spielt. Dies widerspricht aber dem Erleben der Ausbildung und deren Zielsetzungen.
Eine gelingende Kooperation zwischen den beiden Phasen der Ausbildung einerseits und den Schulen andererseits stützt die kohärente Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung der angehenden Lehrer:innen. Die Praxisphasen müssen als gemeinsame Aufgabe in Lehre und Ausbildung durch alle drei Institutionen wahrgenommen werden. Gemeinsame Lehrveranstaltungen, die Handeln und Reflexion beinhalten, müssen etabliert werden. So können die Studierenden die Komplexität ihrer zukünftigen Tätigkeit erfassen und systematisch auf ihr professionelles Handeln vorbereitet werden. Dies kann nur gelingen, wenn eine engere institutionelle und persönliche Verzahnung aufgebaut wird. Das gemeinsame Ziel ist eine hochwertige, wissenschaftlich fundierte und praxisbezogene reflektierte Ausbildung unter Beibehaltung der spezifischen Funktionen und Stärken sowie Beiträgen der jeweiligen Phasen.
6. Der Zugang zum Lehrberuf sollte flexibilisiert werden.
Lehrer:innen müssen über umfangreiche Fach- und Methodenkenntnisse, didaktische Kompetenzen sowie soziale Kompetenzen und Handlungsautonomie verfügen. Dies gelingt durch ein akademisches Studium sowie entsprechende Schulpraxis.
Wir plädieren für die Öffnung verschiedener Zugangswege zum Lehrberuf, ohne dabei das grundständige Lehramtsstudium zu entwerten. Zu diesem Zweck sollten die Länder die Durchlässigkeit von fachbezogenen polyvalenten Bachelorstudiengängen in lehramtsbezogene Masterstudiengänge zumindest in ausgewiesenen Mangelfächern (z. B. in den MINT-Fächern) als regulären Einstiegsweg etablieren, um auch solchen Personen eine Tätigkeit als qualifizierte Lehrer:innen zu ermöglichen, die ihren Berufswunsch erst im Studium oder danach entwickeln.
Schulpraktische Phasen dienen auch zur Überprüfung der eigenen Wahl des späteren Berufes und sollten daher nicht zu früh erfolgen, damit die angehenden Lehrer:innen nicht durch die Komplexität der Schulpraxis überfordert werden. Eine individuelle Studienberatung und -begleitung ist unabdingbar, um entsprechende Berufswahlentscheidungen zu fördern.
7. Die Fort- und Weiterbildung von Lehrer:innen ist Aufgabe der Universitäten.
Die Vernetzung von schulischer Praxis und aktueller bildungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Forschung darf nicht mit Dienstantritt enden. Alle Lehrer:innen sollten sich daher regelmäßig an den Universitäten als Orten der Forschung mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen und diese in den schulischen Alltag mitnehmen. Erst die Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen sichert kompetente Erziehungsarbeit unter sich ändernden Rahmenbedingungen: Lebenslanges Lernen gerade auch für lebenslang Lehrende.
Universitäten müssen daher den Auftrag und die Ressourcen erhalten, das Lehramtsstudium, die Nachqualifizierung von Seiten- und Quereinsteigenden sowie die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften systematisch zu verbinden. Damit wird es gelingen, die drei Phasen der Lehrkräftebildung zielgerichteter miteinander zu verknüpfen.
8. Eine regionen-, schulfächer- und länderspezifische Lehrer:innenquote für Brennpunktschulen sollte eingeführt werden.
Der Mangel an Lehrer:innen stellt das deutsche Bildungssystem aktuell vor große Herausforderungen. Besonders stark betroffen sind „Schulen in herausfordernder Lage“, was eine Gefahr sowohl für die Qualität von Schule und Unterricht als auch für die Vergrößerung von Ungerechtigkeiten im Bildungssystem bedeutet.
Mit unserer Forderung nach Einführung einer regionen-, schulfächer- und länderspezifischen Lehrer:innenquote in Analogie zur erfolgreich praktizierten Landarztquote und weiteren Förderstipendien wollen wir zur Gewinnung und Professionalisierung von zusätzlichen Lehramtsstudierenden beitragen, die sich insbesondere als Lehrer:innen für sogenannte Brennpunktschulen qualifizieren und verpflichten wollen.
Zusätzlich sollen diese Studierenden vor allem im Verlauf der praktischen Phasen ihres Lehramtsstudiums mit passgenauen Angeboten auf ihre zukünftige herausfordernde Tätigkeit vorbereitet werden. Dies sehen wir als wichtige Voraussetzung für eine effektive Ausbildung von ausreichend an Universitäten qualifizierten Lehrer:innen zur Deckung des Bedarfs in Brennpunktschulen an.