Quer- und Seiteneinstieg ins Lehramt


Entschließung des Senats der HRK am 25. Juni 2020


Seiten- und Quereinstieg ins Lehramt: Akademische Standards sind nicht verhandelbar!

1. Für die Jahre 2020 bis 2025 werden 32.000 Lehrkräfte fehlen
Die KMK prognostiziert für die Jahre 2020 bis 2025 das Fehlen von ca. 32.000 Lehrkräften. Auch durch den Seiteneinstieg in den Vorbereitungsdienst und den Quereinstieg direkt in den Schuldienst soll diese Lücke geschlossen werden. Die Qualifikation des Seiten- und Quereinstiegs ist nicht verbindlich geregelt. Die akademischen Ausbildungsinstitutionen sind nicht systematisch in die Qualifikation eingebunden. Eine adäquate Nachqualifizierung von Quer- und Seiteneinsteigern kann jedoch auf die Beteiligung der lehrerbildenden Universitäten und Hochschulen keinesfalls verzichten, auch wenn diese wegen der Erfahrungen und des Engagements von Quer- und Seiteneinsteigenden auf einem hohen Niveau ansetzen kann.

Die pädagogische und fachdidaktische Leistung der akademisch gebildeten Lehrerinnen und Lehrer wird während der Aussetzung des regulären Unterrichts aufgrund der Covid-19-Pandemie offensichtlich. Die Gesellschaft lernt gerade schmerzhaft, dass auch unter modifizierten Rahmenbedingungen kompetente Erziehungsarbeit über die Wissensvermittlung hinaus notwendig, aber auch möglich ist.

Die Gesellschaft für Fachdidaktik e.V. (GFD) fordert Leitlinien für die Entwicklung ergänzender Professionalisierungswege auf Basis wissenschaftlich begründeter Konzepte. Die lehrerbildenden Universitäten und Hochschulen unterstützen diese Forderung nachdrücklich. Sie benötigen eine angemessene Personal- und Sachausstattung, um nicht nur angehende Lehrerinnen und Lehrer nach dem State of the Art zu qualifizieren, sondern auch um Quer- und Seiteneinsteigende nachzuqualifizieren und um die vorhandenen Lehrkräfte fort- und weiterzubilden.

2. Wissenschaftlich begründete Konzepte als Qualifikationsgrundlage
In der ersten Phase der Lehrkräftebildung findet die wissenschaftsbasierte Grundlegung[1] professioneller Kompetenzen und deren erste auf Wissenschaftsgrundlage reflektierte Anwendung im Unterrichtssetting (Praktika) statt. In der zweiten Phase dienen Studienseminar/Vorbereitungsdienst der Umsetzung und Routinisierung der theoretisch erworbenen Kompetenzen im Sinne von Expertiseentwicklung. Die Verbindung der beiden Phasen erlauben eine Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung, auf deren Basis Lehrerinnen und Lehrer Strategien für den Umgang mit prekären gesellschaftlichen Situationen entwickeln und in pädagogisches Handeln umsetzen. Von wissenschaftlich begründeten Konzepten profitiert auch die dritte Phase der Lehrkräftebildung, nämlich die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften. Die Aktualisierung der wissenschaftlichen Grundlagen sichert kompetente Erziehungsarbeit unter sich ändernden Rahmenbedingungen.

3. Fachliche Konsequenzen für die Qualifizierung von Seiten- und Quereinsteigenden
Eine Nachqualifizierung für den Seiten- und Quereinstieg im Rahmen der zweiten Phase ist eine vielgeübte Praxis. Sie wird den akademischen Herausforderungen der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung von Lehrkräften nicht gerecht. Jede Art von Nachqualifizierung muss auf die Expertise der hochschulischen Lehrkräftebildung zurückzugreifen, um einer De-Akademisierung des Lehramts nicht Vorschub zu leisten. Die wissenschaftliche Nachqualifizierung betrifft die fachlichen, fachdidaktischen, und bildungswissenschaftlichen Anteile der Lehrkräftebildung.

a)    Das fachliche Ergänzungsstudium darf nicht hinter das im grundständigen Studium Verlangte zurückfallen.
b)    Die fachdidaktische Nachqualifizierung wird häufig vernachlässigt und wissenschaftliche Befassung durch das Mentoring durch erfahrene Lehrkräfte ersetzt. Erfahrungswissen allein kann jedoch ohne den wissenschaftlichen Hintergrund nicht zu lebenslang aktualisierbarem Professionswissen führen.
c)    Bei der bildungswissenschaftliche Nachqualifizierung ersetzen Studienseminare bzw. Lehrkräftebildungseinrichtungen der Länder die wissenschaftliche Fundierung in den lehrerbildenden Universitäten und Hochschulen. Dies gilt auch in den bildungswissenschaftlichen Bereichen Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik, Pädagogische Psychologie und Entwicklungs- und Erziehungspsychologie.

Die Förderung berufsbezogener überfachlicher Kompetenzen wie z. B. Kommunikationskompetenzen, Teamfähigkeit, Kritikfähigkeit, Reflexionskompetenz etc. sind ebenso ein zentraler Baustein der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung von Lehrkräften wie die reflektierte Auseinandersetzung mit den eigenen Einstellungen und Überzeugungen. Diese Kompetenzen bringen Seiten- und Quereinsteigende durch ihre Vorerfahrungen schon in spezifischer Form mit, sie bedürfen aber einer schulartspezifischen Differenzierung. Ein Austausch auf dieser Ebene bietet Ansatzpunkte für das Hinterfragen wissenschaftlich begründeter Konzepte und damit für deren Weiterentwicklung.

4. Die Entwicklung ergänzender Professionalisierungswege in der Verantwortung und als Aufgabe der Hochschulen
Die pädagogische und fachdidaktische Leistungsfähigkeit von akademisch gebildeten Lehrerinnen und Lehrern ist Grundlage für die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Hochschulen sollen den Auftrag und die Ressourcen erhalten, das Lehramtsstudium, die Nachqualifizierung von Seiten- und Quereinsteigenden sowie die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften systematisch zu verbinden. Damit wird es gelingen, die drei Phasen der Lehrkräftebildung zielgerichteter miteinander zu verknüpfen. Die Qualifizierung von (Fach-)Seminarleitungen des Vorbereitungsdienstes spielt hierbei eine besondere Rolle.

Leitlinien für die Entwicklung ergänzender Professionalisierungswege standardisieren und systematisieren die Eingliederungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für Seiten- und Quereinsteigende und stellen die Wissenschaftlichkeit der als Qualifikationsgrundlage verwendeten Konzepte sicher. Die Bündelung der Aktivitäten erzeugen Synergien zwischen allen an der Lehrkräftebildung Beteiligten, die sowohl die Ressourcen als auch die Expertise sinnvoll miteinander verknüpfen.

5. Fazit
Damit das Potenzial von Seiten- und Quereinsteigenden in den Lehrberuf produktiv für die Weiterentwicklung von Selbst- und Rollenverständnis aller Lehrkräfte aufgegriffen werden kann, ist eine wissenschaftsorientierte und evidenzbasierte Professionalisierung unerlässlich. Daher muss den Hochschulen in der Lehrkräftebildung für Qualifizierung, Nachqualifizierung und Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte die zentrale Rolle zukommen. Eine „Zwischenwelt der Fortbildung“ erzeugt Qualitäts- und Akzeptanzprobleme und „Lehrkräfte zweiter Klasse“ mit ungleichem Status, ungleicher Besoldung und ungleichen Karrierechancen. Für die Chancengerechtigkeit der nächsten Generation ist eine qualitätsgesicherte Lehrkräftebildung mit hohem wissenschaftlichem Anspruch für alle Lehrkräfte unerlässlich – unabhängig davon, welchen Einstieg sie in die wissenschaftlich fundierte Profession des Lehrers oder der Lehrerin auch nehmen.

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[1] Beispiel für wissenschaftsbasierte Grundlegung: Eine Grundschullehrkraft der ersten beiden Jahrgangsstufen hat die Aufgabe, Schülerinnen und Schüler im Schriftspracherwerb zu unterstützen. Ohne Kenntnis linguistischer und entwicklungspsychologischer Grundlagen und ohne Wissen über Befunde zur Wirksamkeit unterrichtlicher Maßnahmen kann Kindern keine individuelle Förderung angeboten werden: Man muss erkennen, ob Kinder z.B. noch Schwierigkeiten haben bei der phonetischen Verschriftung oder ob Probleme eher an einer mangelnden morphematischen Strategie liegen. Um dies diagnostizieren zu können, müssen die linguistischen Grundlagen beherrscht werden.