Entschließung der 14. HRK-Mitgliederversammlung vom 14.5.2013
Entschließung
Angesichts der bedeutenden technischen und gesellschaftlichen Veränderungen aktualisieren und bekräftigen die Hochschulen ihre Verpflichtung zum Wissenstransfer (Traditionell wird Wissenstransfer eingeschränkt auf die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft bezogen. Im Vordergrund steht hier meist der Technologietransfer, der deshalb oft synonym zu Wissenstransfer verwandt wird. Wissenstransfer im hier vorausgesetzten neueren und weiteren Sinn bezieht sich auf jegliche Form von Kommunikation, die in der Regel, aber nicht notwendiger Weise auf einem Wissensvorsprung gründet.):
Für diesen Prozess liefert die Hochschulrektorenkonferenz nachfolgend eine Situationsanalyse und Orientierungshilfen.
I. Situationsanalyse
1. Veränderungen der Rahmenbedingungen für den Wissenstransfer
Technologische Veränderungen
Der Wissenstransfer findet unter Rahmenbedingungen statt, die sich in den letzten Jahren sehr dynamisch verändert haben. Aus technologischer Sicht hat vor allem der Aufstieg des Internets die Bandbreite der Zielgruppenansprache vergrößert, insbesondere aufgrund neuer Distributions- und Interaktionsmöglichkeiten. Dies bedeutet neue Optionen in räumlicher Hinsicht (orts- und nicht-ortsgebundene Vermittlung), in zeitlicher Hinsicht (Entkopplung von Präsenz) und in sozialer Hinsicht (Einbeziehung von nicht-traditionellen Empfängern). Diese Entwicklung zeigt sich auch anhand der Ausdifferenzierung von Medientypen:
• Universelle Vollprogramm-Medien für die allgemeine Öffentlichkeit
• Spartenprogramme für interessierte Teilöffentlichkeiten
• Soziale Netzwerke
• Individualisierte Dienste
Gesellschaftliche Veränderungen
Neben den technologischen wirken aber auch gesellschaftliche Veränderungen auf den Wissenstransfer der Hochschulen ein. Die Idee der Bildungs- und Wissensgesellschaft erhöht die Erwartungen an die Hochschulen, bestimmtes und zielgerichtetes Wissen für die Gesellschaft verfügbar zu machen. Die Umsetzung dieses Auftrages ist für die Hochschulen eine Herausforderung, da sich der Wissenstransfer durch einen Spannungsbogen zwischen zwei Kommunikationsmodi auszeichnet:
• (inner-)wissenschaftlicher Kommunikationsmodus
• (klassischer) öffentlicher Kommunikationsmodus
Der wissenschaftliche Kommunikationsmodus stellt den Erkenntnisgewinn in den Vordergrund. Wissenschaftliche Methodik und Ergebnisse sollen präzise, differenziert und intersubjektiv nachvollziehbar sein. Differenzierung sowie der Verweis auf spezifische Randbedingungen unterstreichen im Ergebnis jedoch oft die Fragilität der Erkenntnisse, weil geringfügige Variationen – z.B. von Annahmen oder Messungen – wissenschaftliche Ergebnisse maßgeblich verändern können. Dem gegenüber steht beim öffentlichen Kommunikationsmodus, der auf ein offenes Publikum zielt, die praktische Relevanz im Mittelpunkt. Fachlich nicht spezialisierte Rezipienten verlangen nach Verständlichkeit der Inhalte. Die damit verbundene Reduktion von Komplexität führt oft zu einer vermeintlichen Eindeutigkeit von Sachverhalten.
Ungleiche Wissenschaftsbereiche
Dieses für den Wissenstransfer konstitutive Spannungsverhältnis trifft dabei auf ungleiche fachspezifische Traditionen. Für den Umgang mit Wissenstransfer und das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher und öffentlicher Kommunikation haben verschiedene Fächergruppen unterschiedliche Modelle des Wissenstransfers entwickelt:
An einem Ende eines Kontinuums steht ein erheblicher Transformationsbedarf, so dass beim Wissenstransfer eine Übersetzung der wissenschaftlichen Inhalte erforderlich ist („Popularisierungsmodell“). Am anderen Ende wird nicht so strikt zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Kommunikation unterschieden („Gradientenmodell“).
Nicht nur unidirektionale Vermittlung
Die technologischen Möglichkeiten der interaktiven Informationsverbreitung haben dazu geführt, dass eine ausschließlich unidirektionale Vermittlung von Wissenden zu nicht Wissenden ein nicht mehr zeitgemäßes Modell ist. Informationen werden von speziellen Communities oder Nutzergemeinschaften nicht nur verteilt und ausgetauscht, sondern auch kommentiert und verändert. Dadurch entstehen fließende Übergänge zwischen Produktion und Rezeption wissenschaftlichen Wissens.
2. Perspektive der Hochschule
Kommunikationsziele
Akteure öffentlicher Wissenschaftskommunikation im Hochschulbereich verfolgen eine Vielfalt von häufig miteinander verquickten Kommunikationszielen, die in der Regel auf erwünschte Effekte abzielen. Diese Ziele lassen sich grob und nicht vollständig trennscharf unterscheiden in:
• Aufklärung
• Beratung
• Legitimation
• Marketing
Erwartungen der Öffentlichkeit
Die inhaltlichen Erwartungen der Öffentlichkeit an die Hochschulen variieren in Abhängigkeit von den jeweiligen Bevölkerungsgruppen, ihren Kommunikationszielen und den Themenfeldern:
• Teilhabe an wissenschaftlicher Erkenntnis
• Erklärungen der Natur und Umwelt des Menschen
• Wissenschaftliche Beratung
• Partizipation an Steuerung der Wissenschaft
• Steigerung der physischen und psychischen Sicherheit
Hochschulen sollten also bei der Wissenschaftskommunikation berücksichtigen, inwieweit die Kommunikationsziele mit inhaltlichen Erwartungen der Öffentlichkeit in Einklang zu bringen sind. Dabei ist davon auszugehen, dass manche öffentliche Erwartungen – z.B. nach Erklärung und Beratung – sehr gut mit den Kommunikationszielen zu vereinbaren sind, andere – wie etwa Partizipation an der Wissenschaftssteuerung – können jedoch mit dem Selbststeuerungsanspruch der Wissenschaft im Konflikt stehen.
Wenn Wissenschaftler und auch Hochschulen wissenschaftliche Inhalte kommunizieren, stellt sich die Frage, inwieweit wissenschaftliche Kommunikationsnormen auch in der öffentlichen Kommunikation gelten. Eine unkritische Anpassung an die Erwartungen nicht-wissenschaftlicher Kommunikationspartner bzw. an die Logik der Massenmedien erscheint problematisch. Eine Abwägung ist die zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit öffentlicher Darstellungen. Ein immanenter Konflikt besteht auch zwischen innerwissenschaftlicher Relevanz und öffentlicher Relevanz, die beispielsweise die Verführung mit sich bringt, Anwendungspotentiale von Forschungsergebnissen zu übertreiben. Und schließlich stellt sich die Frage, ob und wie Wissenschaftler in der öffentlichen Kommunikation über Beschreibung und Analyse hinaus normative Aspekte einfließen lassen und Handlungspräferenzen äußern sollen.
Kommunikationsformen
Öffentliche Wissenschaftskommunikation findet auf verschiedenste Weisen statt. Dabei wird – nicht immer ganz trennscharf – unterschieden zwischen folgenden Kommunikationsformen, wobei es erhebliche Binnendifferenzierungen zu berücksichtigen gilt:
• Journalismus
• Selbstdarstellung (z.B. Websites)
• Interaktive Online-Kommunikation (Soziale Medien)
• Nicht-journalistische Vermittlung (z.B. Science Center)
• Veranstaltungen (z.B. „lange Nächte der Wissenschaft“)
• Organisierte Diskurse (z.B. „Science Cafés")
Kommunikationspotenziale
Die genannten Kommunikationsformen unterscheiden sich in einer ganzen Reihe von Aspekten. Die folgenden fünf Kriterien sollen helfen, die Potenziale von Kommunikationsformen für bestimmte Kommunikationssituationen, Ziele und Zielgruppen einzuschätzen.
• Verbreitung von wissenschaftlichem Wissen und Wissen über Wissenschaft
• Relevanz durch öffentliche Sichtbarkeit
• Kontrolle des Kommunikationsprozesses und der Inhalte
• Transformation zum Zweck der öffentlichen Aufmerksamkeit
• Qualität der Interaktion mit den Kommunikationspartnern
Je nach Kommunikationsziel und Zielgruppe wird man bestimmte Kommunikationsformen präferieren. Jede Kommunikationsform hat bestimmte Potenziale, die sie für verschiedene Zwecke mehr oder weniger geeignet macht. Es können auch Zielkonflikte bestehen. Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass zwischen den verschiedenen Kommunikationsformen Interdependenzen existieren. Z.B. kann mediale Selbstdarstellung oder Kommunikation in sozialen Netzwerken dazu führen, dass Themen durch den Journalismus aufgegriffen werden. Journalistische Berichterstattung kann umgekehrt Interesse an weiterführender Information wecken, das dann zur Nutzung von durch mediale Selbstdarstellungen bereit gestellten Informationen führt.
Kommunikatoren
Beim Stichwort „Medienkontakte“ steht naturgemäß die Frage im Mittelpunkt, wer Kommunikator des Wissenstransfers ist. Für den Bereich der Hochschulen kommen dafür im Wesentlichen Kommunikatoren auf vier Ebenen in Frage:
• Wissenschaftler (individuelle Ebene)
• Teilorganisationen der Hochschule (intermediäre Ebene)
• Hochschule (institutionelle Ebene)
• Hochschulübergreifende Verbünde (Ebene institutioneller Kooperation)
Viele Wissenschaftler folgen einem traditionellen Verständnis, wonach Individuen die alleinigen Träger von Wissenschaft sind. Daraus wird abgeleitet, dass auch der Wissenstransfer allein durch den einzelnen Wissenschaftler zu erfolgen hat. Diese Sichtweise blendet jedoch die Komplexität des Wissenstransfers mit der einhergehenden Notwendigkeit zu professionalisierter Arbeitsteilung weitgehend aus. Überdies haben die Hochschulen als maßgebliche Institutionen des Wissenschaftssystems die Verpflichtung, personelle, finanzielle und wissenschaftspolitische Rahmenbedingungen für Wissenschaftler zu vermitteln. Dieser Verantwortung können sie nur dann gerecht werden, wenn sie auch bei der Vermittlung der wissenschaftlichen Leistungen eine maßgebliche Rolle spielen.
Auf der intermediären Ebene zwischen Einzelwissenschaftlern und Hochschule gewinnen Teilorganisationen der Hochschulen, wie Fakultäten, Fachbereiche, Institute, Forschungscluster, Sonderforschungsbereiche und sonstige Projekte an Bedeutung. Bei diesen Kommunikatoren handelt es sich um kollektive Akteure, die beim Wissenstransfer in Abhängigkeit von Homogenität und Ressourcen unterschiedliche Grade an Formalisierung und Professionalisierung aufweisen. Auch die Erwartungen von Drittmittelgebern – private Förderer, die Wirtschaft und öffentliche Zuwendungsgeber – müssen mitbedacht werden.
Rolle der ehemaligen Pressestellen
Praktisch alle Hochschulen verfügen heute über eine Organisationseinheit „Hochschulkommunikation“. Der Kern der klassischen „Pressestelle“ hat sich erweitert um die interne Kommunikation, die Kontaktpflege zu Ehemaligen sowie die Betreuung der Internetseiten und der Sozialen Medien. Die Hochschulkommunikation unterstützt die Hochschulleitung und die Wissenschaftler und erleichtert den Kontakt zwischen Wissenschaftlern und Medien. Jenseits der alltäglichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist die Hochschulkommunikation auch eine „Firewall“ für kommunikative Krisen. Zwar kann sie Krisen nicht ungeschehen machen, aber doch sehr dazu beitragen, deren Verlauf zu verkürzen und abzumildern.
II. Reflexionen und Orientierungshilfen
Selbstvergewisserungsprozess
Hochschulstrategien können auf der Grundlage von Selbstvergewisserungsprozessen über den Status Quo und die Entwicklung von Leitbildern entwickelt werden. Ausgangspunkt dieses Reflexionsprozesses ist die Erkenntnis, dass sich der Wissenstransfer durch einen Spannungsbogen zwischen dem (inner-) wissenschaftlichen und dem (klassischen) öffentlichen Kommunikationsmodus auszeichnet. Daher muss beim Wissenstransfer in jedem Einzelfall entschieden werden, wie der Bogen zwischen beiden Modi zu schlagen ist. Auf Basis dieser Erkenntnis kann sich der Selbstvergewisserungsprozess an den in den vorangegangenen Kapiteln angesprochenen Aspekten, Ausprägungen und Implikationen des Wissenstransfers orientieren:
Orientierungshilfen
Bedeutung der neuen Medien
Die Ausführungen zum Orientierungsrahmen zeigen die wachsende Bedeutung der neuen Medien für den Wissenstransfer. Sie verändern auch den Umgang der konventionell tätigen Journalisten mit der Wissenschaft. Im Sinne eines Mehrstufenflusses sind für Journalisten die digitalen Medien eine zentrale Quelle. Insofern übernehmen Online-Medien und Datenbanken, die aktuell abrufbares Wissen bereithalten, oft eine Vermittlerrolle, die zuvor nur die Pressestellen innehatten.
Generell senken die neuen Medien die Schwellen für Kommunikation. Das bisherige Paradigma „Public Understanding of Science and Humanities (PUSH)“ wird durch „Public Engagement with Science and Technology (PEST)“ erweitert: Bürger und Wissenschaftler können direkt miteinander kommunizieren und sich Feedback geben. Fraglich ist jedoch, ob sich durch Soziale Medien nachhaltig neue transwissenschaftliche Kommunikationsnetzwerke und Communities etablieren. Die aktive und passive Nutzung von Neuen Medien lässt sich nur schwer kontrollieren. Die Hochschulen sollten daher die neuen Kommunikationsoptionen aktiv gestalten, indem sie für den internen Gebrauch z.B. Handreichungen erarbeiten, inwieweit sich Wissenschaftler und Öffentlichkeitsarbeit z.B. an Sozialen Netzwerken und Lexika (insbesondere Wikipedia) beteiligen sollen. Neue Entwicklungen des Wissenstransfers können sich auch auf neue Formen der Verbindung von Wissenschaft und Unterhaltung erstrecken. Ob solche neuen Formate Aussicht auf nachhaltigen Erfolg haben, ist offen.
Wissenstransfer ist und bleibt Bestandteil der Hochschulaktivitäten. Diese Aufgabe hat sich vor dem Hintergrund der Bildungs-, Wissens- und Mediengesellschaft verstärkt. Daher ist auch eine aktive Rolle der Hochschulleitungen erforderlich.
Dieses Papier ist die Kurzversion des HRK-Readers „Wissenstransfer in die Mediengesellschaft: Situationsanalyse und Orientierungshilfen“ Beiträge zur Hochschulpolitik 3/2013, der im Entwurf verfügbar ist unter:
https://www.hrk.de/themen/hochschulsystem/neue-medien/