Empfehlung des 200. Plenums am 8. Juli 2003
"Diese Zukunftsvergessenheit ist bedrohlich. Wir brauchen Menschen, die ihre eigene Zukunft gestalten, sie also auf die Gemeinschaft von Mann und Frau in der Ehe mit dem Willen zum Kind, also zur Familie anlegen.....Wir müssen ... im Wirtschafts-, Arbeits- und Steuerrecht Rahmenbedingungen schaffen, die den Willen der jungen Menschen zum Kind nicht ersticken", so Professor Dr. jur. Paul Kirchhof, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, anlässlich der Jahresversammlung des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft im Jahre 2002.
Grundsätzlich leiden Frauen und Männer unter dem Problem mangelnder Vereinbarkeit von Familie und Ausbildung sowie Berufstätigkeit in unserer Gesellschaft. Bei der Wahrnehmung familiärer Pflichten und Erziehung zeigt sich der Zwiespalt zwischen Kind und beruflicher Karriere in besonderem Maße. Dies trifft vor allem auch auf hoch qualifizierte junge Frauen zu: wenn sie eine wissenschaftliche Karriere im Blick haben, verzichten sie häufig auf Kinder oder sie geben ihre wissenschaftlichen Ambitionen zugunsten von Kindern auf. Wenn beide Partner in der Wissenschaft tätig sind, setzt überwiegend der Mann seine Laufbahn gradlinig fort. Insofern sind im vorliegenden Text überwiegend Frauen angesprochen, grundsätzlich kommen die vorgeschlagenen Maßnahmen aber auch Männern zugute, wenn sie die Aufgabe der Kindererziehung gleichgewichtig übernehmen, was natürlich anzustreben ist.
Mehr als die Hälfte der Studienanfänger und Studierenden sind Frauen, mit jeder weiteren Qualifikationsstufe nimmt der Anteil der Frauen jedoch ab. Dies liegt vor allem daran, dass die Phase der Qualifizierung häufig in die Phase von Familiengründung und Kindererziehung fällt und die Vereinbarkeit beider Aufgaben zum Problem wird, oder dass Männer gleich gegenüber Frauen bevorzugt werden, weil sie nach dem geltenden Rollenverständnis seltener ausfallen. Frauen, die beruflich erfolgreich sind, wiederum verzichten immer häufiger auf Kinder, entweder weil sie sich mit der Qualifizierung nicht vereinbaren ließen oder weil sie eine erarbeitete berufliche Position nicht gefährden wollen. Berufstätige Akademikerinnen haben zur Zeit deutlich seltener Kinder als Frauen aus anderen Berufsgruppen.
In einer Zeit, in der unstrittig ist, dass der gesellschaftliche Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften in Deutschland aufgrund der demographischen Entwicklung nur gedeckt werden kann, wenn das gesamte Begabungspotential ausgeschöpft wird, wird die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung zum doppelten Problem. Frauen gelangen nur unzureichend in die ihrer Ausbildung und Qualifikation entsprechenden Positionen. In dem Umfang, in dem die Zahl qualifizierter Frauen aber zunimmt, sinkt die Geburtenrate weiter ab.
Dieses Problem ist mittlerweile von einer Vielzahl gesellschaftlicher Akteure erkannt worden. In weiten Bereichen der öffentlichen Verwaltung gibt es Frauenförderpläne, bei Stellenbesetzungen und Beförderungen werden Frauen bevorzugt behandelt, um eine angemessene Beteiligung auf allen Ebenen zu erreichen, praktische Maßnahmen werden ergriffen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicher zu stellen (Kindergärten, Kinderbetreuungszimmer, flexible Arbeitszeitmodelle, gezielte Fortbildungsmaßnahmen). Entwicklungen und Neuerungen im Bereich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf treibt vor allem die Wirtschaft unter dem Stichwort "work life balance" voran, um qualifizierte Arbeitskräfte an sich zu binden oder trotz familiärer Pflichten zu halten.
Einige Hochschulen haben dieses Themenfeld zwischenzeitlich auch systematisch aufgegriffen und sich um eine Zertifizierung als familienfreundliche Hochschule bemüht und die vorhandenen Defizite systematisch aufgearbeitet. Sie stellen jedoch eher die Ausnahme als die Regel dar.
Grundsätzlich sind im Hochschulbereich drei Gruppen zu unterscheiden, für die die Vereinbarkeit Kind und Qualifikation/beruflicher Tätigkeit relevant ist: die Studierenden, der wissenschaftliche Nachwuchs /junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und die Beschäftigten der Hochschulen. In dieser Stellungsnahme geht es vorrangig um die Problemlage von jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftlern mit Kindern. Sie sind insofern in einer besonderen Lage, als sie isolierter sind als die Studierenden, die häufig z.B. in Initiativen auf Gegenseitigkeit Betreuungsprobleme auffangen können, und weil sie unter besonderen zeitlichen Anforderungen, z.T. auch Druck stehen. Außerdem ist diese Gruppe besonders wichtig, da es gilt, den Verlust an Begabungen für die Wissenschaft in dieser Phase aufzuhalten und es seit Jahren nur schleppend gelingt, den Anteil von Frauen an der Professorenschaft zu steigern.
Gleichwohl sollten sich die Hochschulen auch bemühen, die Vereinbarkeit von Studium und Kind z.B. durch geeignete Organisationsformen im Studium und die Auslegung von Vorschriften, z.B. von Prüfungsordnungen (Beispiel: Erkrankung eines Kindes als wichtiger Grund beim Versäumen einer Prüfung) herzustellen und ein familienfreundlicher Arbeitgeber zu sein, indem sie ihre vielfältigen Möglichkeiten zur Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Angebot von Telearbeitsplätzen, Fortbildungsangeboten, Schulung der Führungskompetenz von Vorgesetzen im Hinblick auf das Ziel der Familienorientierung nutzt.
Ein zentrales Problem bei der Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Qualifikation/Beruf und Kind ist die Betreuung von Kindern. Dabei stellt sich das Betreuungsproblem in zweifacher Weise. Die Regelbetreuung, die vor allem in Kindergärten und -horten erfolgt, fällt in den Aufgabenbereich der Kommunen. Darüber hinaus ergibt sich aber ein vielfältiger Betreuungsbedarf, der von diesen Einrichtungen nicht aufgefangen wird: Betreuung von Kindern unter drei Jahren, außerhalb der Öffnungszeiten von Kindergärten oder -horten, in den Sommerferien, wenn diese Einrichtungen schließen, oder bei Krankheit des Kindes, wenn die öffentlichen Einrichtungen nicht besucht werden können. Inwieweit die Regelbetreuung durch öffentliche Einrichtungen abgedeckt werden kann, hängt vom Standort der jeweiligen Hochschule und den Angeboten in den einzelnen Städten ab.
Einzelne Hochschulen haben in Zusammenarbeit mit Elterninitiativen und mit Unterstützung der Studentenwerke eigene Einrichtungen an der Hochschule geschaffen, weil die Nachfrage durch öffentliche Einrichtungen nicht befriedigt werden konnte oder weil besondere Wünsche hinsichtlich der Öffnungszeiten (z.B. an Universitätskliniken) gegeben waren, denen von den öffentlichen Angeboten nicht entsprochen werden konnte. Bei schwierigen Versorgungslagen sollte die Hochschule versuchen, in Kooperation mit der öffentlichen Hand für eine ausreichendes Angebot an Betreuungsplätzen zu sorgen. Dazu gehört auch ein guter Kontakt zu den Einrichtungen vor Ort, um im Fall von Zuzug, Berufung etc. schnell einen Betreuungsplatz zur Verfügung stellen zu können, und eine Anlaufstelle in der Hochschule, an die sich der Wissenschaftler/ die Wissenschaftlerin wenden kann und die im Bedarfsfall auch bei der Vermittlung von privaten Betreuungspersonen behilflich ist.
Zur Abdeckung des unregelmäßigen Betreuungsbedarfs, also vor allem in den Abendstunden, in den Ferien und bei Erkrankung des Kindes, sollte die Hochschule in Zusammenarbeit mit den Betroffenen aktiv nach kreativen Lösungen suchen. Die an einzelnen Hochschulen erprobten Modelle (eigene Kinderbetreuungszimmer, ein Betreuungsangebot auf Gegenseitigkeit oder bei plötzlich auftretendem Bedarf, das auch unter Hinzuziehung von Studierenden/Praktikanten aus einschlägigen Studiengängen sichergestellt wird, und Ferienfreizeiten, mit deren Hilfe nicht nur die langen Ferienzeiten überbrückt, sondern den Kindern auch die Hochschule oder naturwissenschaftliche und technische Themen nahegebracht werden) sollten hier beispielgebend sein. Für die Finanzierung entsprechender Aktivitäten sollten auch private Mittel eingeworben werden.
Weitere hilfreiche Maßnahmen sind:
- Die Einrichtung eines Familienservices, bzw. einer Beratungsstelle für Wissenschaftler/Wissenschaftlerinnen, die Eltern werden oder mit kleinen Kindern neu für die Hochschule gewonnen werden
- Die Öffnung der Hochschulen für Kinder: Signalisierung des Einverständnisses, dass Kinder mitgebracht werden können, wenn sich Betreuungsprobleme ergeben
- Die Durchführung von Veranstaltungen oder Vorlesungsreihen, auf denen Wissenschafter und Wissenschaftlerinnen ihre Arbeit vor dem Hintergrund ihrer familiären Pflichten darstellen und damit zur Enttabuisierung des Themas beitragen
- Anregung, Durchführung und Finanzierung entsprechender Forschungsprojekte- Die Förderung von Netzwerken von betroffenen Wissenschafterinnen und Wissenschaftlern, damit Erfahrungen an neu hinzukommende weitergegeben werden können
- Evtl. Angebot einiger Gästewohnungen für junge Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern mit Kindern, ggfs. mit einem Betreuungsangebot verbunden
Die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und wissenschaftlicher Qualifikation/Beruf in Deutschland ist auf eine Vielzahl gesellschaftlicher, vor allem auch steuerrechtlicher Rahmenbedingungen zurückzuführen. Auch ist die Aufgabenverteilung, z.B. hinsichtlich der Betreuung von Kindern eindeutig: Kindergärten, Kindertagesstätten werden von den Kommunen getragen. Die Hochschulen können durch Einzelmaßnahmen weder die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern, noch können sie in einer Phase fortgesetzter finanzieller Kürzungen den Betrieb von Kindertagesstätten für Studierende/Wissenschaftler und nicht-wissenschaftliche Beschäftigte übernehmen. Dennoch können sie durch kleinere Maßnahmen, die nicht kostenintensiv sind, zu einer Erleichterung beitragen und Signale geben, dass wissenschaftliche Qualifikation und Tätigkeit und Kindererziehung durchaus miteinander vereinbar sind.
Familienorientierung ist ein Profilelement der Hochschule, das im Hinblick auf die Positionierung im Wettbewerb um Studierende, wissenschaftlichen Nachwuchs und junge Wissenschaftler von Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund sollte sich die einzelne Hochschule überlegen, ob sie die Familienorientierung in ihr Leitbild aufnimmt und/oder sich entsprechend dem Vorbild von Unternehmen, Verwaltungen und einigen Hochschulen um eine Zertifizierung als familienfreundliche Hochschule bemüht, eine Defizitanalyse durchführt und ein Konzept einschlägiger Maßnahmen entwickelt.
Die Auswertung einer Umfrage zu Maßnahmen an den Hochschulen zur Vereinbarkeit von Studium/wissensschaftlicher Qualifikation und Kindererziehung können Sie im nachfolgenden Dokument nachlesen.