Zusammenarbeit der Bildungsbereiche stärken – Fachkräfte sichern


Entschließung der 38. HRK-Mitgliederversammlung am 14.5.2024

I. Ausgangslage

Die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hängt im Kern von der Qualität seines Bildungssystems ab. Die Hochschulen leisten mit der Qualifizierung von Fach- und Führungskräften für die gesamte Breite von Wirtschaft und Gesellschaft dazu seit vielen Jahren einen erheblichen Beitrag.[1]
  
Dabei verstehen sich die Hochschulen als Teil und Partnerinnen eines übergreifenden Systems. Insbesondere die beiden großen Bildungssysteme in Deutschland, akademische und berufliche Bildung, wirken seit Langem in vielfältiger Weise zusammen. Das Binnenverhältnis ist seit vielen Jahrzehnten stabil, auch einschneidende Veränderungen wie etwa die Bologna-Studienreform von 1999 änderten daran nichts. Wesentlich für diese Stabilität ist die gemeinsame Überzeugung, dass sich die Bildungsbereiche in ihrer Verschiedenheit gegenseitig ergänzen und dabei als gleichwertig zu betrachten sind.[2]  

Die Hochschulrektorenkonferenz bekennt sich dezidiert zu den Prinzipien der Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit akademischer und beruflicher Bildung. Die Bildungsbereiche dürfen nach ihrer Überzeugung nicht gegeneinander ausgespielt werden, und die Wertschätzung beider muss bei gleichzeitiger Würdigung der Unterschiede und Besonderheiten erhalten bleiben.[3]  

Der aktuelle und absehbar länger anhaltende Fachkräftemangel und seine Folgen stellen eine der drängendsten Herausforderungen in Deutschland dar und haben weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen. Diese Situation fordert das Zusammenwirken der beiden Bildungsbereiche in besonderer Weise heraus und bedarf der gemeinsam wahrzunehmenden Verantwortung und entsprechender Maßnahmen der Politik.[4] 

II. Handlungsfelder

Vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen Verantwortung muss die Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet werden, was Hochschulen, berufliche Bildung, allgemeinbildende Schulen und weitere Akteur:innen unternehmen können, um den Fachkräftemangel zu reduzieren. Im Zentrum steht dabei das Fachkräftepotenzial, das sich durch die ohnehin aus vielen Gründen gebotene Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen und dem Zusammenwirken der Bildungsbereiche erschließen lässt. 

Hierbei sind folgende Handlungsfelder in den Blick zu nehmen:

1. Potenziale ausschöpfen
Seit Jahren liegen die Abbruchquoten im Studium und der beruflichen Bildung auf vergleichbarem Niveau zu hoch.[5] Allerdings muss berücksichtigt werden, dass es sich in vielen Einzelfällen um Neuorientierungen handelt. Es folgt also eine weitere Startphase. Sie gilt es optimal zu begleiten. Gleichwohl sollten Abbrüche bestenfalls vermieden werden und in jedem Fall zu einem passenden Fortgang der Bildungskarriere führen können.[6] Daneben benötigen wir ein stärkeres Engagement, um Personen, die sich nicht in Ausbildung, Arbeit oder Schulung befinden, zu Abschlüssen zu führen. Schließlich sollte neben der Gewinnung von ausländischen Studierenden[7], Auszubildenden und Fachkräften v. a. die strukturelle Stärkung der Erwerbstätigkeit von Frauen – auch im Hinblick auf Chancengerechtigkeit – stärker thematisiert werden.

Vielfältige Maßnahmen der Hochschulen entlang des student life cycles zielen bereits heute darauf ab, den Studienerfolg zu erhöhen. Die Modelle und Maßnahmen zielen dabei sowohl auf Information, Beratung und Auswahl von Studieninteressierten als auch auf die fachliche und außerfachliche Unterstützung von Studierenden und Studieninteressierten sowie die Integration und Identifikation der Studierenden. Durch flexible Programme werden zudem individuelle Geschwindigkeiten ermöglicht. Da der Studienerfolg nicht nur durch die akademischen Herausforderungen beeinflusst wird, sondern auch durch die Lebensumstände und das soziale Umfeld der Studierenden, halten die Hochschulen auch in diesem Bereich zahlreiche Angebote bereit. 

2. Wechselseitige Durchlässigkeit erhöhen
Übergänge zwischen beiden Bildungsbereichen müssen bei gleichbleibend hohen Qualitätsstandards weiter erleichtert werden[8], um flexiblere Bildungswege zu eröffnen. Dies betrifft beruflich Qualifizierte ebenso wie zuvor Studierende und kann z. B. durch mehr Transparenz, kompetenzorientierte Anrechnung[9], ergebnisoffene Beratung sowie Orientierungshilfen für junge Menschen erreicht werden.

Auch in Folge der Öffnung des Hochschulzugangs für Personen ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung und mit maßgeschneiderten und flexiblen Angeboten sowohl im grundständigen Bereich als auch in der wissenschaftlichen Weiterbildung leben die Hochschulen das Leitbild der „offenen Hochschule“ bereits. Unterstützt wird dies durch spezifische Beratungsangebote für diverse Zielgruppen und die Anrechnung bereits außerhochschulisch erworbener Kompetenzen. Dies zeigt, dass in den Hochschulen bereits deutliche Fortschritte für mehr Durchlässigkeit im Bildungssystem erzielt wurden.

3. Kooperationen fördern
Produktives Zusammenwirken im Bildungsbereich lässt sich nur über Kooperation erreichen. Dazu gehört auch eine systematische Vernetzung der Bildungsbereiche an den strategisch wichtigen Punkten. Diese muss den Dialog zwischen den Bereichen fördern und Unterstützung für die konkreten Bildungs- und Erwerbsbiografien leisten. Zur Einmündung in den Arbeitsmarkt sind flankierende Maßnahmen von Arbeitgeber:innen erforderlich.

Mit einer Vielzahl von Kooperationsformen v. a. zwischen beruflicher Bildung und Hochschulen, die auf verschiedenen Ebenen ansetzen und in unterschiedlicher Weise Partner:innen aus anderen Bildungsbereichen einbeziehen, sind die Hochschulen hier bereits umfänglich aktiv. Im Vordergrund stehen dabei hybride Bildungsformate, wie z. B. das duale Studium, und gemeinsame Angebote etwa mit Verbänden und Organisationen aus der beruflichen Bildung in Orientierungsphasen oder für Übergänge zwischen den Bildungsbereichen. 

4. Berufs- und Bildungsberatung offen gestalten
Die ergebnisoffene Berufs- und Bildungsberatung an Schulen[10] und Hochschulen dient dazu, junge Menschen bei der bestmöglichen Ausschöpfung ihrer persönlichen Potenziale zu unterstützen. Daher muss sie begleitend für die gesamte Ausbildungs- und Studienphase konzipiert und verfügbar sein. Sie soll jungen Menschen Perspektiven und Wahlmöglichkeiten vermitteln und Alternativen aufzeigen. Diese Ausrichtung sollte stets Grundlage einer Zusammenarbeit mit anderen Akteur:innen sein.  

Die Hochschulen engagieren sich hier in vielfältiger Weise im Schulbereich sowie mit Blick auf die Studierenden im Rahmen des student life cycles[11] und setzen gerade bei der Vermittlung in andere Bildungsbereiche auf die Zusammenarbeit mit lokalen Partner:innen im Hochschulsystem und außerhalb der Hochschulen (siehe auch 3.).

III. Ausblick
Die Hochschulen beteiligen sich in hohem Maße an der Fachkräftesicherung, bekennen sich zu der entsprechenden Verantwortung und werden ihre Anstrengungen hierfür in allen vier Handlungsfeldern weiter intensivieren. Die HRK wird, auch unter Einbeziehung außerhochschulischer Partner:innen, hierzu beispielhafte Modelle zusammenstellen und veröffentlichen.

Trotz vielfach positiver Entwicklungen besteht weiterhin Veränderungsbedarf, der jedoch einen erheblichen finanziellen Mehraufwand für die Hochschulen bedeutet und zusätzlicher Grundmittel bedarf, „ohne die den Hochschulen ein dauerhaftes strategisches Engagement kaum möglich sein wird“.[12] Darauf hat der Wissenschaftsrat in seinen grundlegenden Empfehlungen zum Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung bereits 2014 hingewiesen.[13]  

Die Hochschulrektorenkonferenz empfiehlt den Hochschulen, der beruflichen Bildung, den Schulen, den Unternehmen und weiteren Akteur:innen, Maßnahmen in den vier Handlungsfeldern zu ergreifen, um den Fachkräftemangel in Deutschland zu reduzieren. Die HRK fordert Bund und Länder dazu auf, geeignete rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen.

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[1] Im WiSe 2022/2023 waren insgesamt 2.920.263 Studierende an den Hochschulen in Deutschland eingeschrieben. Dies ist ein Anstieg um ca. 420.000 Studierende ggü. dem WiSe 2012/13. Siehe HRK 2023: Statistische Daten zu Studienangeboten an Hochschulen in Deutschland. Wintersemester 2023/2024. Statistiken zur Hochschulpolitik 1/2023. S. 22.
[2] Vgl. Empfehlung des 134. Senats der HRK am 13.10.2016 „Die Hochschulen als zentrale Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft – Eckpunkte zur Rolle und zu den Herausforderungen des Hochschulsystems“. S. 10-11.
[3] Vgl. Gemeinsame Stellungnahme von HRK, BDA und Stifterverband 2015: „Zehn Empfehlungen zur Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung“.
[4] Vgl. Pressemitteilung von HRK und Bundesagentur für Arbeit vom 7.3.2023: Fachkräftepotenzial für Deutschland heben: Bundesagentur für Arbeit und Hochschulrektorenkonferenz betonen gemeinsame Verantwortung der Bildungsbereiche.
[5] Die Studienabbruchquote beträgt derzeit 28 Prozent im Bachelor- bzw. 21 Prozent im Masterstudium (Heublein et al. 2022: Die Entwicklung der Studienabbruchquoten in Deutschland. DZHW Brief 05/2022. S. 5-9). Die Zahlen können jedoch nach Studiengängen, Fächerkulturen und Standorten stark variieren und bedürfen jeweils einer differenzierten Betrachtung. Die sog. Lösungsquote bei Ausbildungsverträgen betrug 2022 29,5 Prozent und zwischen 2016 und 2021 zwischen 25,8 und 26,9 Prozent (Uhly; Neises 2023: Vorzeitige Vertragslösungen in der dualen Berufsausbildung. Bundesinstitut für Berufsbildung. Bonn. S. 10).
[6] Perspektivisch ist die Situation von Studienabbrecher:innen insgesamt positiv zu beurteilen: Sie orientieren sich in der Regel schnell neu und nehmen ein weiteres Studium oder eine Berufsausbildung auf oder wechseln in die Erwerbstätigkeit (BMBF 2018: Die Attraktivität der beruflichen Bildung bei Studienabbrecherinnen und Studienabbrechern. Berlin. S. 30 f.)
[7] Vgl. Entschließung der 38. Mitgliederversammlung der HRK am 14.5.2024:  Erfolgreiche Studien- und Berufswege internationaler Studierender in Deutschland – Grundlagen und Rahmenbedingungen.
[8] Siehe auch die Entschließung der 33. Mitgliederversammlung der HRK am 10.5.2022: Anerkennung und Anrechnung an Hochschulen.
[9] Ebd. S. 13.
[10] Vgl. Rahmenvereinbarung über die Zusammenarbeit von Schule und Berufsberatung zwischen der Kultusministerkonferenz und der Bundesagentur für Arbeit (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004 i. d. F. vom 1.6.2017).[11] Vgl. Entschließung der 32. Mitgliederversammlung der HRK am 16.11.2021: Beratung im Student Life Cycle durch die Hochschulen.
[12] Wissenschaftsrat 2014: Empfehlungen zur Gestaltung des Verhältnisses von beruflicher und akademischer Bildung – Erster Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels (Drs. 3818-14), Darmstadt 11.4.2014. S. 89.
[13] Ebd. S. 85-97. Vgl. außerdem Wissenschaftsrat 2015: Empfehlungen zum Verhältnis von Hochschulbildung und Arbeitsmarkt – Zweiter Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels (Drs. 4925-15), Bielefeld 16.10.2015. S. 112f.