Entschließung der 33. Mitgliederversammlung der HRK vom 10.5.2022
Inhalt
I. Einleitung
II. Begriffsbestimmung und rechtlicher Rahmen
III. Herausforderungen
1. Organisationsentwicklung: Anerkennungs- und Anrechnungskultur leben
2. Mobilitätsförderung: Hürden abbauen
3. Durchlässigkeit fördern: Übergänge schaffen
4. Qualitätsentwicklung: Vertrauen stärken
5. Verfahrensgestaltung: Prozesse verbessern
IV. Empfehlungen
1. Übergreifende Empfehlungen
2. Empfehlungen an die Hochschulen
3. Empfehlungen an Bund und Länder
4. Empfehlungen an außerhochschulische Bildungsakteure
I. Einleitung[1]
Offene Hochschulen gehen in besonderem Maße auf die Vielfalt ihrer Studierenden ein und bringen dies in ihren Wertvorstellungen zum Ausdruck. Sie zeichnen sich durch ihre Ausrichtung auf die Lernenden aus und stehen für eine offene Willkommenskultur. Die Hochschulen begrüßen Studieninteressierte, die bereits über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die dem Hochschulniveau entsprechen, und sehen sie als Bereicherung an. Sie bieten ihren Studierenden lokal, regional, international oder auch virtuell lebensbegleitend flexible Lernpfade an und fördern ihre berufliche und persönliche Weiterentwicklung. Unabhängig von den biographischen Hintergründen ihrer Studierenden integrieren sie die Vielfalt in ihrem Profil einer wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrinstitution. Hierdurch leisten die Hochschulen einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag.
Der Leitgedanke einer für Vielfalt und Heterogenität offenen Hochschule („Heterogenitätssensibilität“) ist grundlegend für die Etablierung einer von allen Hochschulmitgliedern getragenen Anerkennungs- und Anrechnungskultur. Die Hochschulen zeigen dadurch, dass sie vorhandene Kompetenzen wertschätzen, und leisten durch qualitätsgesicherte, transparente und faire Anerkennung und Anrechnung einen Beitrag zu individuellen akademischen Bildungswegen für Studierende im In- und Ausland. Gleichwohl sind die Spezifika der Hochschulbildung bei allen Anerkennungs- und Anrechnungsprozessen, die genuine Aufgaben von Hochschulen sind, zu bedenken.
Zwar hat die Coronapandemie einen spürbaren Rückgang des akademischen Austausches zur Folge gehabt, und der Klimawandel gibt Anlass, über die Gründe und Intensität der bisher praktizierten internationalen Mobilität von Studierenden und weiteren Hochschulangehörigen nachzudenken. Dennoch ist deutlich geworden, dass die Entwicklung akademischer Kompetenzen – insbesondere in Krisenzeiten – zum gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritt beiträgt. Akademische, einschließlich überfachlicher und interkultureller Kompetenzen sind der Schlüssel zum Verständnis für die Vielfalt von unterschiedlichen Sichtweisen und Ansätzen. Obwohl der virtuelle Austausch eine Bereicherung für Studium und Lehre ist, kann er den persönlichen Austausch nicht ersetzen.
Eine Voraussetzung für ein durchlässiges Bildungssystem, das wechselseitig Kompetenzen und Leistungen anrechnet, ist die formale Gleichwertigkeit[2] der beiden Bildungsbereiche: die berufliche Bildung muss daher gleichermaßen wie die Hochschulen jeweils Kompetenzen aus anderen Bildungskontexten wertschätzen und diese unabhängig vom Ort und Kontext des Kompetenzerwerbs anrechnen. Dann trägt das Bildungssystem zu flexiblen Lernpfaden bei und fördert das lebensbegleitende Lernen.
II. Begriffsbestimmung und rechtlicher Rahmen
Hochschulische Anerkennung und Anrechnung bedeuten praktisch, dass eine Hochschule auf Antrag von Studierenden oder Studieninteressierten andernorts oder in anderem Zusammenhang erzielte Lernergebnisse mit den Lernzielen im betreffenden Studiengang vergleicht. Bei positiver Entscheidung behandelt die anerkennende bzw. anrechnende Hochschule dabei die anderweitig erlangten Lernergebnisse so, als wären sie an der eigenen Hochschule erreicht worden. Anerkennung und Anrechnung können sowohl bei Aufnahme eines Studiums als Grundlage für den Hochschulzugang erfolgen, als auch während eines Studiums mit dem Ziel, einzelne Module zu ersetzen.
Anerkennung und Anrechnung weisen jedoch auch Unterschiede auf. Sie beziehen sich jeweils auf Kompetenzen, die in unterschiedlichen Systemen und Kontexten entwickelt wurden:[3]
- Anerkennung bezieht sich auf Kompetenzen der Antragsteller:innen, die an Hochschulen im In- und Ausland erbracht wurden.
- Anrechnung bezieht sich auf alle Kompetenzen der Antragsteller:innen, die außerhalb von Hochschulen in formalen, non-formalen und informellen Kontexten entwickelt wurden.
Anerkennung und Anrechnung sind Verwaltungsakte, die den entsprechenden Regelungen des deutschen Verwaltungsrechts unterliegen. Beide werden in den Hochschulgesetzen der Länder näher geregelt. Während sich die Bestimmungen zur Anerkennung auf eine bundesweit geltende Rechtsgrundlage beziehen, die sogenannte Lissabon-Konvention,[4] orientieren sich diejenigen zur Anrechnung in der Regel an den ländergemeinsamen Vorgaben im Rahmen der „Anrechnungsbeschlüsse“ der KMK von 2002 und 2008. Dabei gibt es drei zentrale Unterschiede zwischen Anerkennung und Anrechnung in den Hochschulgesetzen: das Prüfkriterium, die Beweislast und die Begrenzung im Umfang. Für die Anerkennung gilt das Prüfkriterium des wesentlichen Unterschieds, und die Beweislast bei der Ablehnung eines Antrags liegt bei den Hochschulen; bei der Anrechnung gilt grundsätzlich das Prüfkriterium der Gleichwertigkeit, und die Beweislast für die Bewilligungsvoraussetzungen liegt bei den Antragsteller:innen. Weiterhin ist im Gegensatz zur Anerkennung bei der Anrechnung i.d.R. eine Obergrenze der anzurechnenden Leistungspunkte vorgesehen.
Zukünftig könnte es zu einer Vereinheitlichung der inhaltlichen Bewertung von Anerkennung und Anrechnung kommen, wenn die im November 2019 von der Generalkonferenz der UNESCO angenommene „Global Convention on the Recognition of Qualifications concerning Higher Education“ von Deutschland ratifiziert wird. Denn diese sieht das Prüfkriterium des wesentlichen Unterschieds sowohl für hochschulisch als auch für außerhochschulisch angeeignete Kompetenzen vor.
III. Herausforderungen
Um lebensbegleitendes Lernen an den Hochschulen zu fördern, bedarf es einer Betrachtung der zentralen hochschulischen Handlungsfelder:
• Organisationsentwicklung,
• Mobilitätsförderung,
• Gestaltung von Durchlässigkeit,
• Qualitätsentwicklung und
• Verfahrensgestaltung.
Diese weisen jeweils spezifische Herausforderungen auf, werden jedoch idealerweise in den Hochschulen ganzheitlich betrachtet.
1. Organisationsentwicklung: Anerkennungs- und Anrechnungs-kultur leben
Heterogenitätssensible Hochschulen im Europäischen Hochschulraum ermöglichen Mobilität und Durchlässigkeit für ihre Studierenden. Qualitätsgesicherte Anerkennung und Anrechnung bringen daher ihre Wertvorstellungen zum Ausdruck und sind eine Antwort auf geänderte gesellschaftliche und individuelle Bildungsansprüche, die sich aus dem globalen wirtschaftlich-technologischen, demographischen sowie sozialen Wandel ergeben. Diese Wertvorstellungen finden sich beispielsweise in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates für die hochschulische Bildung,[5] der Europäischen Kommission für einen europäischen Raum des Lebenslangen Lernens[6] und in den Positionen studentischer Interessenvertretungen.[7] Die Hochschulen stehen daher vor der Herausforderung, interkulturelles und lebensbegleitendes Lernen zu ermöglichen und genügend Freiräume anzubieten, um Studium, Beruf und Familie bzw. die weitere persönliche Lebensgestaltung zu vereinbaren.
Zu den Herausforderungen für die Entwicklung einer jeweils hochschuleigenen Anerkennungs- und Anrechnungskultur zählen Unsicherheiten und Bedenken von Hochschulangehörigen gegenüber andernorts angeeigneten Kompetenzen. Dies ist nicht zuletzt eine Folge von fehlenden Informationen und herausforderndem Wissenstransfer zwischen Hochschulverwaltung und Lehre, hervorgerufen auch aufgrund häufiger Personalwechsel. Die Komplexität kompetenz- und lernergebnisorientierter Studiengangsentwicklung kommt erschwerend hinzu.
2. Mobilitätsförderung: Hürden abbauen
Die Förderung von Mobilität im Hochschulbereich soll einen Beitrag leisten zur Internationalisierung der Hochschulbildung und Forschung, zur Gewinnung von exzellenten Wissenschaftler:innen auf allen Karrierestufen sowie zur Förderung von Fremdsprachenkenntnissen und der Entwicklung interkultureller sowie personaler Kompetenzen bei Absolvent:innen. Während jedoch Studierendenmobilität häufig mit einem internationalen Standortwechsel assoziiert wird, ist der Blick ebenso auf die innerdeutsche sowie die virtuelle Mobilität zu richten. Vor allem die Europäischen Hochschulnetzwerke und die Entwicklung durch die Corona-Pandemie haben letzterer einen Auftrieb gegeben, der zukünftig weiter ausgebaut werden sollte.
Studierende erhalten die Chance, physisch oder virtuell an Hochschulstandorte in Deutschland, Europa und weltweit zu wechseln und Erfahrungen mit unterschiedlichen Lernumgebungen zu sammeln, um ihre Bildungsbiografien weiterzuentwickeln. Damit sich jedoch der Organisationsaufwand der Studierenden lohnt, bedarf es einer gewissen Planungssicherheit. Angeeignete Kompetenzen sollten im Anschluss auch anerkannt werden können. Damit sind möglichst klare Anerkennungsregelungen eine der wichtigsten Voraussetzungen für Studierendenmobilität, die von den Hochschulen zu leisten ist, um frühzeitig Hürden abzubauen.
Für Hochschulen resultieren daraus drei grundsätzliche Herausforderungen:
- Mangel an mobilitätsfördernden Studienstrukturen: Anerkennungshürden liegen oft ursächlich darin, dass Studiengänge nicht kompetenzorientiert konzipiert und beschrieben oder in zu große Einheiten gegliedert sind. Auch ist es hinderlich für Studierende, wenn das Curriculum im Ablauf sehr eng gefasst ist und kaum Spielraum für mobile Phasen vorsieht. Weiterhin ist bei virtuellen Studierenden deren Status unklar, was die curriculare Integration virtueller Modelle erschwert.
- Fehlende organisationale Verankerung: Unklare Zuständigkeiten und Prozesse sowie intransparente Kommunikation sorgen bei Mitarbeitenden und Studierenden für Desorientierung und erschweren die Abläufe. Dies betrifft auch die Digitalisierung von Verfahren (bspw. im Hinblick auf das Online Learning Agreement), die eine zusätzliche Aufgabe darstellt. Für die Organisation von Prozessen und die Digitalisierung von Mobilität fehlen finanzielle und personelle Ressourcen, um ggf. notwendige Change-Management-Prozesse einzuleiten und nachhaltig zu verankern.
- Nachhaltige Institutionalisierung von Hochschulkooperationen: Kooperationen entstehen oft zwischen einzelnen Hochschulangehörigen, die sich an der eigenen Hochschule dafür engagieren. Für eine darauf aufbauende, nachhaltig institutionalisierte Grundlage, die von gegenseitigem Austausch und Vertrauen lebt, mangelt es jedoch meist an personellen Ressourcen. Auch die Europäischen Hochschulallianzen können nur mit intensivierter und nachhaltiger Förderung zum Vorbild für institutionalisierte Kooperationen mit starker struktureller Verzahnung werden.
3. Durchlässigkeit fördern: Übergänge schaffen
Im europäischen Bildungsraum werden dem Lebenslangen Lernen und der Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen große Bedeutung beigemessen, da sie die individuelle Kompetenzentwicklung und Qualifizierung sowie Ort und Zeitpunkt derselben flexibilisieren. Dadurch ergeben sich Teilhabechancen für alle, sich zeit- und ortsunabhängig fort- und weiterzubilden. Damit aber tatsächlich alle Lernwilligen uneingeschränkten Zugang erhalten, ist es erforderlich, bestimmte Voraussetzungen zu schaffen: Eine Voraussetzung ist die wechselseitige Öffnung der beruflichen und hochschulischen Bildungsbereiche, um flexible Lernpfade zu ermöglichen. Trotz der Bemühungen einer beidseitigen Durchlässigkeit in Deutschland bestehen weiterhin Herausforderungen:
- So werden den Hochschulen kaum zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um die beidseitige Durchlässigkeit weiter voranzutreiben,[8] wodurch die Anzahl an entsprechenden Angeboten eher gering ausfällt.
- Trotz der Betonung der formalen Gleichwertigkeit der beiden Bildungsbereiche sind die rechtlichen Vorgaben und somit der Umfang anzurechnender Kompetenzen und Qualifikationen für den Hochschulbereich und die berufliche Bildung unterschiedlich.
- Die Anrechnung von außercurricularen Kompetenzen an den Hochschulen, wie z. B. berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung, Erwerbsarbeit, Praktika, Familienzeit oder Ehrenamt erfolgt in eher geringem Ausmaß.
- Darüber hinaus sind flexible Studienformate wie berufsbegleitende oder weiterbildende Bachelorstudiengänge, Teilzeit-, Zertifikatsstudiengänge sowie kürzere, auch digitale Lernformate, die einen erleichterten Zugang für nicht-traditionelle Studierende zur hochschulischen Bildung ermöglichen, weiter ausbaufähig.
4. Qualitätsentwicklung: Vertrauen stärken
Im Rahmen der Qualitätssicherung der Hochschulen wird die Passung der hochschulischen Umsetzung von Anerkennung und Anrechnung mit rechtlichen Vorgaben geprüft, die sich in den Landeshochschulgesetzen, dem Studienakkreditierungsstaatsvertrag bzw. den entsprechenden Landesrechtsverordnungen und europäischen Normen wie den European Standards and Guidelines finden. Gegenstand der Qualitätssicherung ist auch die kompetenz- und lernergebnisorientierte Studiengangsgestaltung. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für die hochschuleigene Steuerung von Anerkennung und Anrechnung, indem das Verhältnis von Kern-, Ergänzungs- und Komplementärkompetenzen im Studiengang vorab festgelegt wird und Lernergebnisse auf Modul- und Studiengangsebene spezifischer oder offener beschrieben werden können. Es besteht Konsens, dass Kernkompetenzen erfüllt werden müssen, aber mehr Freiheit bei den Ergänzungs- und Komplementärkompetenzen ermöglicht werden sollte.[9]
Dabei bereitet das Verfassen kompetenzorientierter Beschreibungen von Lernergebnissen mithilfe von Instrumenten wie Qualifikationsrahmen oder Lernzieltaxonomien, mit denen eine solche Vergleichbarkeit erleichtert werden soll, ebenfalls Schwierigkeiten.
Die unterschiedliche gesetzliche Regelung von Anerkennung und Anrechnung sowie das Fehlen von verbindlichen Auslegungen der Landeshochschulgesetze erschweren die normkonforme Umsetzung an den Hochschulen. Auch die Anforderungen einer heterogenen Studierendenschaft, die zunehmend die Zertifizierung bzw. Validierung von andernorts entwickelten Kompetenzen fordert, stellen eine Herausforderung mit Blick auf qualitätsgesicherte Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren dar. Dafür werden Informationen über andere Bildungsorte benötigt, um deren Qualität der Studienangebote besser einschätzen und Anerkennung bzw. Anrechnung von Kompetenzen und Qualifikationen vornehmen zu können. Insbesondere bei ausländischen Franchise-Modellen sollte eingehend geprüft werden, ob und inwieweit die von der Hochschule angewandten Qualitätssicherungsinstrumente auch für den außerhochschulischen Partner gelten. Diese Informationen sind jedoch i.d.R. schwer auffindbar und behindern dadurch die Anerkennungs- und Anrechnungsprüfung.
Das gestiegene Aufkommen an Anträgen erfordert zudem moderne, digital unterstützte Verwaltungsprozesse, um sowohl die Abläufe der Anträge als auch deren Dokumentation zu erleichtern. Idealerweise sollten diese auch eine hochschulübergreifende Vergleichbarkeit von Lernergebnissen durch die Hinterlegung aktueller Modulbeschreibungen der Studiengänge ermöglichen. Die Hochschulen stehen somit vor der Aufgabe, die eigene IT-Infrastruktur an überörtlich organisierte Informationsprozesse anzupassen.
5. Verfahrensgestaltung: Prozesse verbessern
Die Hochschulen haben innerhalb des gegebenen regulatorischen Rahmens und unter Beachtung der jeweiligen länderspezifischen legislativen Vorgaben Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren. Je nach Regelungsumfang auf den Ebenen der gesamten Hochschule ergeben sich wiederum Freiheiten bzw. Notwendigkeiten für die Fakultäten und Fachbereiche, eigene Prozesse zu definieren, transparent darzustellen und ressourcenschonend umzusetzen. Bei unklaren oder unzureichenden Regelungen entstehen intransparente Prozesse sowie unklare Zuständigkeiten und darüber hinaus Probleme in der Zusammenarbeit der beteiligten Akteur:innen. Verstärkt wird dies weiter durch das hochschulübergreifende Ziel der Digitalisierung der gesamten Verwaltungsprozesse, wenn Abläufe nicht bereits vorher auf Grundlage gemeinsamer Qualitätsstandards hochschulweit abgestimmt wurden. Für Studierende ist es problematisch, wenn sie nicht die richtigen Ansprechpartner:innen finden können oder es unzureichende Regelungen beispielsweise im Hinblick auf Fristen, Prozessdauer, Widerspruchsregelungen oder den Umgang mit Noten gibt.
Während Anerkennungsverfahren durch das Prüfkriterium des wesentlichen Unterschieds und der damit verknüpften Beweislastumkehr geregelt sind, zeichnen sich Anrechnungsverfahren auf Grundlage des Kriteriums der Gleichwertigkeit durch eine weitere Herausforderung aus: Die zu bewertenden Lernergebnisse stammen nicht aus demselben Kontext wie diejenigen, mit denen sie verglichen werden. Entscheiden sich Hochschulen für Verfahren zur pauschalen Anrechnung, bedürfen die Ergebnisse im Sinne der Qualitätssicherung regelmäßiger Überprüfung. Dies unterstreicht die Bedeutung einer entsprechenden Formulierung von Lernergebnissen und Kompetenzen in Dokumenten aus hochschulexternen Bildungswegen.
Erschwerend kommt bei Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren hinzu, dass unterschiedliche Akteur:innen in Hochschulen beteiligt sind und miteinander kooperieren müssen: zur Beratung und Unterstützung von Studierenden vor und während der Antragstellung, beim Learning-Agreement-Prozess, in unterschiedlichen Bereichen der Verwaltung, um den rechtskonformen Ablauf zu gewährleisten, und innerhalb der Studiengänge zur Entscheidung über Anträge.
IV. Empfehlungen
1. Übergreifende Empfehlungen
Allen beteiligten Akteur:innen wird empfohlen,
- sich zur Ausgestaltung einer Willkommenskultur und zur stetigen Weiterentwicklung der Prozesse sowohl hochschulintern als auch mit anderen Verantwortlichen zu vernetzen und regelmäßig hinsichtlich Anerkennung und Anrechnung auszutauschen;
- sich dafür einzusetzen, kompetenz- und lernergebnisorientierte Lehr-/Lernaktivitäten und Prüfungsformen an allen Bildungseinrichtungen zu verwirklichen.
2. Empfehlungen an die Hochschulen
Den Hochschulleitungen wird empfohlen,
- eine Anerkennungs- und Anrechnungskultur an ihrer Hochschule zu etablieren, die auf der Leitidee der heterogenitätssensiblen Hochschule im Europäischen Hochschulraum aufbaut. Diese heterogenitätssensible Hochschule sollte
o alle Lernenden unabhängig von ihrem Bildungshintergrund, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts willkommen heißen und ihnen kompetenz- und lernergebnisorientierte Lehre sowie flexible Studienbedingungen bieten;
o in weltoffener Weise allen Zugangsberechtigten individuelle akademische Bildungswege ermöglichen, d. h. sie ist sowohl durchlässig in alle Richtungen als auch mobilitätsfreundlich;
o Anerkennung sowie Anrechnung als wichtige Bestandteile im Bereich Studium und Lehre bewusst berücksichtigen.
- das Konzept der heterogenitätssensiblen Hochschule in die Hochschulstrategie einzubinden und ein aktives Veränderungs-management zu betreiben und dabei Anerkennung und Anrechnung zu fördern;
- Rahmenverträge für Partnerschaften mit anderen Hochschulen und für Kooperationen mit außerhochschulischen (Bildungs-)Akteuren abzuschließen;
- Anerkennung und Anrechnung hochschulweit verbindlich zu regeln und studierendenfreundliche Fristen sowie Regelungen für die Berücksichtigung von Noten vorzusehen;
- dafür Sorge zu tragen, dass bei der Entwicklung von Verfahren alle Beteiligten einbezogen und funktionierende Schnittstellen eingerichtet werden;
- ausreichende Mittel für genügend und dauerhafte Stellen in allen mit Anerkennung und Anrechnung beschäftigten Organisationseinheiten bereitzustellen. Für die Digitalisierung von Anerkennungs- und Anrechnungsprozessen werden zusätzliche Ressourcen benötigt;
- die Zusammenarbeit mit anderen Hochschulen in Betracht zu ziehen, um Ressourcen insbesondere mit Blick auf die digitale Unterstützung von Prozessen und die Informationsbereitstellung zusammen-zuführen;
- eine transparente Kommunikation des Anerkennungs- und Anrechnungsangebots der Hochschule zu initiieren.
Den Fachbereichen bzw. Fakultäten und Fächern wird empfohlen,
- Studiengänge und Module kompetenz- und lernergebnisorientiert zu gestalten. Dabei sollten Möglichkeiten zur individuellen und mobilen Studiengangsgestaltung bereits bei der Konzeption mitgedacht werden, beispielsweise durch Einplanung geeigneter Modulgrößen, Mobilitätsfenster, Professionalisierungs-, Kompetenz- und Wahlbereiche sowie zusätzlicher sogenannter „Container“-Module;
- Im Sinne der Qualitätssicherung auf die konsequente Kompetenzorientierung bei der Anerkennung und Anrechnung zu achten und den Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse (HQR) zugrunde zu legen;
- flexible Studienformate, wie Teilzeit- oder Zertifikatsstudiengänge,[10] oder berufsbegleitende bzw. weiterbildende Bachelor-Studiengänge einzuführen und sich mit den Potenzialen von kürzeren Lernformaten (wie z. B. Micro- Credentials[11]) zu beschäftigen;
- gemeinsam mit in- und ausländischen Partnerhochschulen Studiengänge zu entwickeln sowie strategisch wichtige Partnerschaften gezielt auf der Fakultäts- bzw. Fachbereichsebene zu unterstützen;
- bei der Einführung pauschaler Anrechnungsverfahren systematische Äquivalenzvergleiche durchzuführen und regelmäßig die Erfüllung der festgelegten Kompetenzziele zu überprüfen;
- Referenzsysteme (Qualifikationsrahmen, Lernzieltaxonomien) bei der Prüfung von Anerkennungs- und Anrechnungsanträgen nach ihren jeweiligen Prüfkriterien konsistent zu verwenden;
- Beratungsangebote für Studieninteressierte und Studierende zu Anerkennung und Anrechnung sowie zu den Angeboten der mobilitätsfreundlichen und offenen Hochschule anzubieten.
Der Studierendenverwaltung wird empfohlen,
- die hochschulischen Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren studierendenfreundlich durchzuführen. Dazu gehören insbesondere Prozessflexibilität und kurze Bearbeitungszeiten. Hinweise auf Rechtsbehelfsmöglichkeiten für Antragsteller:innen sollten von den Hochschulen zur Verfügung gestellt werden;
- Umsetzungshilfen für alle beteiligten Akteur:innen, z. B. in Form von Handreichungen oder Leitfäden, bereitzustellen. Diese sollten Prozesse und Zuständigkeiten klar benennen und beinhalten, dass Entscheidungen idealerweise in einer hochschulweit zugänglichen Datenbank zu dokumentieren sind;
- insbesondere Prüfer:innen von Anerkennungs- und Anrechnungsanträgen durch Informations- und Beratungsangebote zu den jeweiligen Prüfkriterien zu unterstützen;
- die Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren der Hochschule gemeinsam an zentraler Stelle zu kommunizieren;
- Informationen zu Mobilitätsformen und -möglichkeiten zu bündeln und zu verbreiten. Die Informationen sollten verlässlich und einfach auffindbar sein sowie mindestens in Deutsch und Englisch veröffentlicht werden. Dafür eignet sich - neben regelmäßig stattfindenden Informationsveranstaltungen - eine zentrale Informationsplattform, die auch von einem Zusammenschluss von Hochschulen für die Mobilitätsförderung gemeinsam betrieben werden könnte;
- Informationen zu Angeboten der durchlässigen Hochschule, beispielsweise dem Anrechnungsverfahren und flexiblen Studienformaten, transparent zu veröffentlichen und entsprechende Informationsveranstaltungen anzubieten.
Den Studierenden (bzw. ggf. Studieninteressierten) wird empfohlen,
- auf allen Ebenen der akademischen Selbstverwaltung an der Gestaltung der Verfahren mitzuwirken;
- Anerkennung und Anrechnung, wo zutreffend, im Rahmen von organisierten Hochschulgruppen zu einem Thema der Hochschulpolitik zu machen;
- Beratungs- und Informationsmöglichkeiten wahrzunehmen;
- sich mithilfe von Beratungs- und Informationsangeboten über die Qualität von Bildungseinrichtungen zu informieren sowie vor einem Antrag die mögliche Passung der bereits vorhandenen Kompetenzen zu den zu erzielenden Lernergebnissen abzuschätzen;
- die Bereitstellung aller notwendigen Informationen für die hochschulinternen Verfahren sicherzustellen.
3. Empfehlungen an Bund und Länder
Dem Bund wird empfohlen,
- sich nachdrücklich für die beidseitige Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher (Weiter-)Bildung und Hochschulstudium einzusetzen, wobei die Hochschulen, KMK, BMBF, BMAS und BiBB noch enger miteinander kooperieren sollten;
- in Abstimmung mit den Ländern Förderlinien und -programme zu initiieren, die die Veränderungsprozesse in den Hochschulen zur Verbesserung von Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren finanziell unterstützen;
- die finanzielle Förderung von Studierenden, die einen Auslandsaufenthalt während des Studiums planen, sowie derer, die nebenberuflich oder neben einer familiären Phase studieren, weiterzuentwickeln.
Den Ländern wird empfohlen,
- die Grundfinanzierung der Hochschulen entsprechend den zusätzlichen Aufgaben- und Leistungsvolumina, die sich aus der Weiterentwicklung von Anerkennung und Anrechnung ergeben, zu erhöhen. Mit der Einführung gestufter Studiengänge und der Modularisierung sind auf Ebene der Studienstruktur die rechtlichen Voraussetzungen für politisch ausdrücklich gewünschte, zusätzliche Mobilität der Studierenden geschaffen worden. Daneben öffnet die Digitalisierung von Studium und Lehre weitere Räume für Kooperation, Interaktion und die individuelle Gestaltung des Studienerfolgs. Internationale Mobilität, Studienortwechsel, Gestaltung von Durchlässigkeit sowie verschiedene Formen digital gestützter, individueller Mobilität erzeugen u.a. bei der Anerkennung und Anrechnung einen erheblichen administrativen und finanziellen Aufwand. Dem ist im Kontext der weiteren Ertüchtigung von Studium und Lehre, in dem auch die Forderungen der HRK nach einer Digitalpauschale und nach einer Dynamisierung des Zukunftsvertrags „Studium und Lehre stärken“ stehen, Rechnung zu tragen;
- bei der Einführung von berufsbegleitenden bzw. weiterbildenden Bachelor-Studiengängen die auskömmliche Finanzierung sicherzustellen. Für den Fall, dass weiterbildende Bachelorstudiengänge aus Grundmitteln finanziert werden sollen, muss die Grundfinanzierung seitens der Länder entsprechend angehoben werden. Wenn die Finanzierung nicht aus Grundmitteln erfolgen darf, muss hilfsweise die Erhebung von Entgelten möglich sein;[12]
- im Rahmen der jeweiligen Mittelvergabemodelle sicherzustellen, dass den Hochschulen und ihren Haushalten durch Mobilität von Studierenden insgesamt keine finanziellen Nachteile entstehen;
- eine für alle 16 Länder gültige einheitliche Gesetzgebung für die Anrechnung zu schaffen;
- den Hochschulen Auslegungshilfen für die jeweils geltende Anerkennungs- und Anrechnungsgesetzgebung zur Verfügung zu stellen;
- Regelungen für die Förderung von Mobilität bei staatlich regulierten Studiengängen zu ermöglichen und den Betroffenen transparent aufzuzeigen, wer von den involvierten Akteur:innen wann zuständig ist;
- Studien zu fördern, die sich aus der vergleichenden Perspektive der Hochschulbildung mit Hochschulabschlüssen, primär auf Bachelorniveau, und den Abschlüssen der beruflichen Fortbildung und deren gegenseitiger Anrechnung auseinandersetzen. Dabei sind die Bedeutung der beruflichen Fort- und Weiterbildung für Hochschulabsolvent:innen und dafür erforderliche (rechtliche) Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen;
- Projektmittel für eine mögliche Bündelung von Serviceeinrichtungen zu Anerkennung und Anrechnung verschiedener Hochschulen bereitzustellen;
- den rechtlichen Status von virtuell mobilen Studierenden zu klären. Hierbei ist ein möglichst länderübergreifend einheitlich geregelter rechtlicher Status von Studierenden sowohl in physischen als auch in virtuellen Mobilitätsphasen anzustreben;
- den rechtlichen Status von Teilnehmer:innen der Angebote wissenschaftlicher Weiterbildung (z. B. Zertifikatsstudierende) zu klären, um diesen im Sinne des Lebenslangen Lernens und der Durchlässigkeit dieselben Rechte wie anderen Studierenden zu geben.
4. Empfehlungen an außerhochschulische Bildungsakteure
Um die Grundlagen für die Erhöhung der beidseitigen Durchlässigkeit zu schaffen, werden die verschiedenen außerhochschulischen Bildungsakteure, insbesondere die berufliche Bildung, aufgefordert,
- verstärkt Kompetenzen aus der hochschulischen Bildung auf die berufliche Bildung anzurechnen;
- die Kompetenz- und Lernergebnisorientierung in der beruflichen Lehre zu fördern und eine Modularisierung der beruflichen Bildungsangebote vorzulegen;
- mit den Hochschulen in Austausch zu treten, um Kooperationen im Bereich der pauschalen Anrechnung zu ermöglichen;
- ihre Qualitätssicherungsmechanismen für Abschlüsse, Zertifikate und Leistungen transparent zu kommunizieren;
- bereits getroffene Anrechnungsentscheidungen stringent zu dokumentieren, beispielsweise mithilfe einer Datenbank. Diese könnte auch für (potenzielle) Studienabbrecher:innen zu Informationszwecken zur Verfügung gestellt werden.
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[1] Diese Empfehlung basiert auf der Zukunftswerkstatt „Qualitätskriterien“ des HRK-Projekts MODUS und wurde durch die Ständige Kommission für Lehre und Studium der HRK ergänzt und der Mitgliederversammlung der HRK zur Verabschiedung empfohlen. Die Langversion „Anerkennung und Anrechnung: Herausforderungen und Perspektiven“ ist in Kürze unter www.hrk-modus.de verfügbar.
[2] Vgl. Beschluss des Senats der Hochschulrektorenkonferenz (2016): „Die Hochschulen als zentrale Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft - Eckpunkte zur Rolle und zu den Herausforderungen des Hochschulsystems“
[3] Die hier zugrunde liegende systemorientierte Definition von Anerkennung und Anrechnung bietet den Vorteil, dass auf den ersten Blick ersichtlich ist, um die Prüfung welcher Lernergebnisse es sich handelt. Alternative Bestimmungen der beiden Begriffe sind jedoch weiterhin in Gebrauch. Insbesondere die Hochschulgesetze der Länder weichen zum Teil vom systemorientierten Begriffsgebrauch ab.
[4] Die Lissabon-Konvention wurde mit dem „Gesetz zu dem Übereinkommen vom 11. April 1997 über die Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europäischen Region“ am 16. Mai 2007 (Bundesgesetzblatt Teil 2, Nr. 15 vom 22.05.2007) durch die Bundesrepublik ratifiziert und in Bundesrecht überführt.
[5] Wissenschaftsrat (2019): Empfehlungen zu hochschulischer Weiterbildung als Teil des Lebenslangen Lernens. Vierter Teil der Empfehlungen zur Qualifizierung von Fachkräften vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. (Drs. 7515-19) Berlin 2019
[6] Europäische Kommission (2001): Mitteilung der Kommission. Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen. Brüssel. 21.11.2001
[7] Vgl. bspw. European Students’ Union (2019): Internationalisation and Mobility Policy Paper. Board Meeting76 Sofia
[8] Größere Förderprogramme, wie z. B. „Aufstieg durch Bildung: Offene Hochschulen“ oder „Anrechnung beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge“ (ANKOM), sind mittlerweile abgeschlossen.
[9] Während die Ergänzungskompetenzen aus den individuell belegten Wahl- und Ergänzungsbereichen des Studiums resultieren, werden mit Komplementärkompetenzen diejenigen bezeichnet, die durch den Studiengang selbst nicht abgedeckt werden können, jedoch zum angestrebten Studienziel passen.
[10] Vgl. Deutsche Gesellschaft für wissenschaftliche Weiterbildung und Fernstudium (2018): Struktur und Transparenz von Angeboten der wissenschaftlichen Weiterbildung an Hochschulen in Deutschland, S. 2 Übersichtsraster).
[11] HRK Empfehlung (2020): Micro-Degrees und Badges als Formate digitaler Zusatzqualifikation. Empfehlung der 29. Mitgliederversammlung der HRK am 24. November 2020. S. 11, C.I.4.
[12] HRK Empfehlung (2021): Neue Möglichkeiten schaffen und nutzen: Empfehlungen zur wissenschaftlichen Weiterbildung. Empfehlung der 32. Mitgliederversammlung der HRK am 16. November 2021.