Positionspapier der HRK zu Abitur, allgemeiner Hochschulreife und Studierfähigkeit


Beschluss des 472. Präsidiums vom 16. Oktober 1995



I. Reform der gymnasialen Oberstufe


1. Entwicklung
2. Gegenwärtige Probleme


II. Zur Reform der gymnasialen Oberstufe


1. Grundsätze
2. Anforderungen an das Abitur
3. Profil des Abiturs


III. Auswirkungen auf die Lehrerausbildung


 


I. Reform der gymnasialen Oberstufe


1. Entwicklung


Anknüpfend an die Erklärung der WRK "Zur Weiterentwicklung der neugestalteten gymnasialen Oberstufe" von 1977 und an die gemeinsame Stellungnahme von WRK und KMK zur "Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe und allgemeine Studierfähigkeit" von 1982 stellt die HRK fest, daß das Abitur seinem Anspruch als Nachweis der allgemeinen Studierfähigkeit nicht in hinreichendem Umfang gerecht wird.


Dies zeigt die anhaltende Kritik aus den Hochschulen an der Eingangsqualifikation der Studienanfänger und damit an der Studienvorbereitung. Auch die Vereinbarung der KMK "Zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe" in der Fassung von 1988 hat offenbar nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung geführt.


Die WRK hat seinerzeit die Reform der gymnasialen Oberstufe mit angestoßen, deren Umsetzung aber sehr kritisch begleitet. Das von der KMK 1972 umgesetzte Reformwerk wich von den Vorschlägen des Schulausschusses der WRK, die in den "Kriterien der Hochschulreife" 1969 vorgelegt wurden, in einem entscheidenden Punkt ab. In diesen Kriterien sprach auch die WRK von Aufgabenfeldern, das auf die allgemeine Hochschulreife bezogene gemeinsame Anforderungsminimum blieb aus ihrer Sicht allerdings an Fächer gebunden und wurde auf die Ergebnisse der gesamten Schulzeit, nicht nur auf die Oberstufe bezogen.


Demgegenüber beschränkte sich die KMK-Vereinbarung auf die Definition des Pflichtbereichs in Form von Aufgabenfeldern und löste sie somit von den fachbezogenen und für alle verbindlich gedachten Grundanforderungen los.


Die WRK stand dem Gedanken der individuellen Schwerpunktbildung in der Oberstufe offen gegenüber, gab ihm aber keineswegs das Gewicht, das er später in Form der Leistungskurse und der damit einhergehenden Fehlentwicklungen erhalten hat. Schwerpunktbildung sollte aus Sicht der Hochschulen weder die gemeinsamen Grundanforderungen dominieren, noch eine direkte Vorbereitung auf künftige Fachstudien leisten, sondern der allgemeinen Hochschulreife ein bestimmtes Profil geben.


Die Schwerpunktbildung in zwei "wissenschaftlichen Fächern" sollte an diese gemeinsamen Grundanforderungen - und damit an ein Mindestmaß allgemein verbindlicher Orientierungen und Einsichten - gebunden bleiben und erst im Rahmen dieser nicht abwählbaren Forderungen und Lernziele ihren Stellenwert für die Ausprägung der allgemeinen Hochschulreife erhalten.


2. Gegenwärtige Probleme


Die Auffächerung der Hochschulzugangsberechtigungen und die Ausweitung der Bildungsbeteiligung haben dazu geführt, daß die Eingangsqualifikationen der Studienanfänger schwer einschätzbar, in jedem Fall aber sehr inhomogen geworden sind. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Gymnasien, die eine Klasse wiederholen ("Sitzenbleiberquote"), hat sich seit Mitte der sechziger Jahre halbiert. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist die Abiturdurchschnittsnote von 2,7 auf 2,4 gestiegen.


Seit 1965 ist der Anteil Heranwachsender mit allgemeiner Hochschulreife am Altersjahrgang von 7,5 % auf 26 % gestiegen. Die differenzierten Wahlmöglichkeiten von Fächerkombinationen in der Sekundarstufe II haben angesichts des seit Anfang der 70er Jahre ausgeweiteten Numerus clausus und der dadurch gestiegenen Bedeutung der Abiturdurchschnittsnote dazu beigetragen, daß die Aussagefähigkeit des Abiturs als Indikator für die allgemeine, auf alle Studienfächer bezogene Studierfähigkeit nicht mehr hinreichend gegeben ist.


Dies hat zu erheblichen zusätzlichen Anforderungen an die Hochschulen geführt, die diese angesichts ihrer mit den Studienanfänger- und Studierendenzahlen nicht Schritt haltenden Ausstattung nur unzureichend erfüllen können. Die Inhomogenität der Vorbildung der Studienanfänger erschwert angesichts der rasch steigenden Leistungsanforderungen den Studierenden den in überfüllten Hochschulen ohnehin schwierigen Start ins Studium. Sie erfordert zusätzliche Leistungen der Hochschulen für die Studierenden, z.B. durch das Angebot von Brückenkursen, um die für das Studium notwendigen Vorkenntnisse zu vermitteln.


Dies führt bei Aufrechterhaltung der Qualität des Hochschulstudiums zur Verlängerung der Studienzeiten und wirkt insofern der angestrebten Verkürzung der Fachstudiendauern entgegen.


Die HRK verkennt nicht, daß die Rahmenbedingungen und Lebensumstände, unter denen die junge Generation heute aufwächst, auch zu veränderten Sozialisationsmustern, Verhaltensweisen und Einstellungen geführt haben. Diese wirken sich auf das Lern- und Arbeitsverhalten der Schülerinnen und Schüler aus, während die Ursachen durch die Schule nur in Grenzen beeinflußbar sind. Überdies erfüllt das Abitur nicht nur studienvorbereitende, sondern auch eine allgemeinbildende Funktion und soll den Einstieg in eine berufliche Qualifizierung ermöglichen. Die Anforderungen an die angemessene Vorbildung der Studienanfänger können dadurch jedoch grundsätzlich nicht reduziert werden. Von den Schulen ist zu erwarten, daß sie diese Anforderungen in Rechnung stellen und sich daran orientieren.


Die HRK begrüßt den Beschluß der Kultusministerkonferenz über die Standards eines Mittleren Schulabschlusses in den Fächern Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache, weil damit die Grundlage verbessert wird, in der gymnasialen Oberstufe an die Leistungen der Sekundarstufe I anzuknüpfen und in die Anforderungen an die Studierfähigkeit - wie seinerzeit bereits von der WRK gefordert - stärker die Ergebnisse der gesamten Schulzeit einzubeziehen.


II. Zur Reform der gymnasialen Oberstufe


1. Grundsätze


Die Stellungnahme der HRK beschränkt sich auf die Anforderungen an das Abitur als allgemeine, für alle Studiengänge qualifizierende Hochschulzugangsberechtigung. Neben dem Abitur haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene Formen der fachbezogenen Hochschulzugangsberechtigung entwickelt. Sie haben sich insbesondere im Hinblick auf die Erschließung des Begabungspotentials für ein Hochschulstudium im wesentlichen bewährt.


Eine darüber hinausgehende, weitere Differenzierung der Hochschulzugangsberechtigung, insbesondere im Sinne einer fachspezifischen Fachhochschulzugangsberechtigung, erscheint nicht sinnvoll. Sie wäre der Durchlässigkeit des Bildungswesens insgesamt, insbesondere aber zwischen den Hochschularten abträglich und würde die Wahlmöglichkeiten der Hochschulzugangsberechtigten im Hinblick auf alternative Ausbildungswege außerhalb der Hochschulen beeinträchtigen. Seitens der Fachhochschulen wird die Auffassung vertreten, von einer hochschultypengebundenen Hochschulzugangsberechtigung letztlich Abstand zu nehmen.


Ungeachtet der notwendigen Reform der gymnasialen Oberstufe sollte bei der Zulassung in NC-Fächern von der Entscheidung über die Studienplatzvergabe allein nach der Abiturdurchschnittsnote abgerückt und sollten die Abitur-Fachnoten künftig studiengangsbezogen gewichtet werden. Dazu sollten für einzelne Studiengänge oder Fächergruppen fachlich definierte Anforderungskriterien erarbeitet werden, die bei der Studienzulassung zu berücksichtigen sind. Hier sollten alle bereits jetzt bestehenden Möglichkeiten wie Kursbelegung und Notengewichtung (z.B. gem. § 15, Abs. 2 und 4 Sächs. Hochschulgesetz) ausgeschöpft werden.


Sollte es hingegen nicht gelingen, in absehbarer Zeit zu einer Verbesserung der Aussagefähigkeit des Abiturs im Hinblick auf die Studierfähigkeit zu kommen, werden die Hochschulen sich verstärkt dafür einsetzen, jedenfalls für zulassungsbeschränkte, aber auch für weitere Studiengänge Hochschuleingangsprüfungen einzuführen. Dabei sollte an die bereits praktizierten Auswahlgespräche oder Prüfungen (Medizin, Architektur) angeknüpft werden.


Da die Hochschulen auch für überlange Studienzeiten und Studienabbrüche aufgrund von Fehlentscheidungen bei der Studienwahl verantwortlich gemacht werden, ist in jedem Fall sicherzustellen, daß eine Studienberechtigung auch die Studienbefähigung einschließt. Dies ist im Zweifelsfall auch zu überprüfen.


2. Anforderungen an das Abitur


Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit der Sekundarstufe II bedarf es aus Sicht der HRK einer kritischen Prüfung, inwieweit

  • die in den Leistungskursen in der Praxis vorherrschende inhaltlicheSpezialisierung bei Vernachlässigung eines fachlich breiten Grundlagenwissens die Studierfähigkeit faktisch vorzeitig auf Fächer der Leistungskurse einschränkt,

  • die gegebenen (Ab-)Wahlmöglichkeiten in der Oberstufe einerseits zu einer inhaltlichen Zersplitterung und Beliebigkeit, andererseits auch über alle Länder hinweg betrachtet zu einer kaum noch überschaubaren Differenziertheit von Abiturprofilen und damit einem die Eingangs- und Orientierungsphase verlängernden Nachholbedarf (Brückenkurse und Fehlorientierungen) führen.

Die HRK ist zwar der Auffassung, daß bestimmte Strukturelemente der Oberstufenreform im Grundsatz beibehalten werden könnten.


Unbeschadet der Möglichkeit individueller Schwerpunktsetzungen in der Oberstufe muß aber das Abitur auf einen gemeinsamen Grundbestand an Qualifikationen und Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten konzentriert werden. Dabei geht es um

  • Sicherung einer hinreichenden Breite der Kenntnisse, d.h. eines unverzichtbaren und daher nicht abwählbaren Kerns an Fächern, was zugleich Reduzierung der Wahlmöglichkeiten bedeutet;

  • Stärkung der Vermittlung des grundlegenden Überblickswissens bei Beibehaltung der - bei der Reform von 1972 ursprünglich auch intendierten - exemplarischen Vertiefung unter Betonung methodischer Fragen in einem Fach, d.h. Zurücknahme der zum Teil weit fortgeschrittenen inhaltlichen Spezialisierung, insbesondere in den Leistungskursen;

  • Kennenlernen/Kenntnis unterschiedlicher Kulturkreise (aus Vergangenheit und Gegenwart);

  • Beherrschung der Fähigkeit, Gedanken in einem strukturierten Argumentationszusammenhang zu ordnen, sie zu präzisieren und sich der sprachlichen Ausdrucksmittel im Deutschen differenziert zu bedienen;

  • Befähigung, sich in einem bestimmten Umfang Wissen selbständig anzueignen und sich der erforderlichen Hilfsmittel zu bedienen, d.h. die Selbstorganisation und Selbststeuerung zu stärken;

  • Befähigung zum Umgang mit EDV-Techniken und Multimedia-Nutzung als systematischem Mittel zur Informationsgewinnung und -verarbeitung, aber auch zur eigenständigen Auswahl und Gewichtung von Informationen und Wissen und deren Nutzung;

  • Befähigung, Fragestellungen und Aufgaben in Gruppenarbeit zu behandeln, zu kommunizieren und zu lösen, d. h. "Teamfähigkeit" auszubilden;

  • Bereitschaft und Fähigkeit zu fachübergreifendem, fächervernetzendem Denken;

  • Bereitschaft, für Entscheidungen Verantwortung für sich und die Gruppe zu übernehmen, sich der Kritik zu stellen, Resultate zu vertreten und für sie einzustehen, was unabhängig vom sachlichen Ergebnis ein eigenständiges Gewicht in der Bewertung haben sollte.

Ein solcher Grundbestand an Kenntnissen und Schlüsselqualifikationen ist im übrigen nicht nur für ein Hochschulstudium bedeutsam, sondern für jede verantwortliche Berufsposition unverzichtbar.


3. Profil des Abiturs


Das Abitur wird nur dann dem Anspruch, Ausweis der allgemeinen Studierfähigkeit zu sein, gerecht werden können, wennein Kern an Fächern festgelegt wird, die bis zur Abiturprüfung erfolgreich absolviert sein müssen und nicht differenziert unterrichtet werden. Dazu gehören:

  • Muttersprache (Deutsch),

  • Mathematik,

  • eine aus der Sekundarstufe I fortgeführte Fremdsprache,

  • eine aus der Sekundarstufe I fortgeführte Naturwissenschaft (oder ein auf dem Unterricht der Einzeldisziplinen in der Sekundarstufe I basierendes "KombinationsfachNaturwissenschaft" mit dem Ziel der Förderung inter disziplinären, vernetzenden Denkens),

  • Geschichte (unter Einschluß der Zeitgeschichte);

  • in der Abiturprüfung Deutsch und Mathematik verbindlich zu prüfen sind und darüber hinaus festgelegt wird, daß mindestens ein weiteres der o.g. durchgängig zu belegenden Fächer zu wählen ist.

Wenn an der Unterscheidung zwischen Grund- und Leistungskursen festgehalten wird, ist sicherzustellen, daß Leistungskurse dem Prinzip exemplarischer Wissenschaftspropädeutik verpflichtet sind, d.h. sich auf die Vermittlung von Basiswissen und grundlegenden Methodenkenntnissen derjenigen Hochschuldisziplinen konzentrieren, denen das Aufgabenfeld des jeweiligen Schulfaches zuzuordnen ist. Inhaltliche Spezialisierungen, die einer engen fachspezifischen Studienvorbereitung gleichkommen, sind zu vermeiden.


Bei Sicherstellung der o.g. Kernanforderungen ist gegen eine fachliche Schwerpunktsetzung, auch in den Fächern Kunst oder Musik, nichts einzuwenden. Allerdings sollte Sport künftig außer in Fachgymnasien oder entsprechenden Schulzweigen weder Leistungs- noch Abiturfach, aber auf allen Klassenstufen verbindlich sein.


III. Auswirkungen auf die Lehrerausbildung


Die oben genannten Grundsätze und Anforderungen an das Abitur werfen einige Fragen zur Lehrerbildung auf, die mittelfristig einer Klärung bedürfen. Dazu zählen insbesondere

  • die hochschulinterne Organisation und Koordination sowie die curriculare Struktur der Lehramtsstudiengänge,

  • das Verhältnis zwischen Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Erziehungswissenschaft,

  • die Sicherung und Stärkung des Berufsbezugs des Lehramtsstudiums,

  • eine klarere organisatorische Zuordnung der Lehrerbildung und der Studierenden innerhalb der Hochschule,

  • das Verhältnis zwischen erster und zweiter Ausbildungsphase bzw. zwischen den beruflichen Anforderungen in der Schulpraxis und der theoretischen Ausbildung,

  • die Rolle der Hochschulen in der Lehrerfort- und -weiterbildung und

  • eine bessere Verbindung zwischen Schule und Hochschule, z.B. durch gegenseitigen personellen Austausch.

Da die Hochschulen maßgebliche Verantwortung für die Lehrerausbildung tragen, wird sich die HRK diesen Fragen in der nächsten Zeit zuwenden und hierzu eine ausführlichere Stellungnahme vorbereiten.