Der Schweizer Ägyptologe Antonio Loprieno über den zunehmenden Druck auf die Kleinen Fächer, über ihre Irrwege – und über seine Überzeugung, dass die Kleinen Fächer in Deutschland unvergleichlich besser dastehen als in den Nachbarländern. Teil 1 des Interviews.
Herr Loprieno, Sie haben den Blick von außen: Wie gut stehen die Kleinen Fächer in Deutschland da?
Wenn man sich anschaut, wie oft man ein bestimmtes Fach studieren kann, dann stehen die Kleinen Fächer in Deutschland unvergleichlich besser da als im Ausland – wirklich unvergleichlich besser. Das hat sicher historische Gründe: Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Disziplinen als autonome Wissensbereiche etabliert und sich damit akademisch gleichwertig mit größeren Fächern entwickelt. Das führt dazu, dass etwa die Ägyptologie oder Assyrologie de facto ein ähnliches akademisches Dasein führen wie etwa Geschichte oder Physik, obwohl sie natürlich viel weniger Studierende haben.
Ist diese positive Bilanz wirklich nur der historischen Entwicklung geschuldet? Es gibt ja innerhalb Deutschlands durchaus auch Unterschiede zwischen den Bundesländern.
Das hat mit der Geschichte des deutschen Hochschulwesens zu tun. Wenn Sie sich die klassischen Kleinen Fächer anschauen, also die speziellen kulturwissenschaftlichen Fächer, dann werden sie feststellen, dass es sie vor allem an den alten, historisch gewachsenen Universitäten gibt. Deshalb stellt sich für manche Bundesländer die Frage nach der Pflege von Kleinen Fächern in viel stärkerem Maße als für andere Bundesländer, die eine spätere Hochschulentwicklung erfahren haben.
Wenn die Fächer so gut dastehen – ist dann eine Förderinitiative wie die Kleine-Fächer-Wochen überhaupt notwendig?
Die Frage schneidet verschiedene Aspekte an. Zunächst ist da die curriculare Entwicklung: Die Hochschulen orientieren sich verstärkt in Richtung von MINT-Fächern, von Naturwissenschaften, von Innovation. Da geraten die speziellen Kulturwissenschaften, unter denen die klassischen Kleinen Fächer stark vertreten sind, unter Druck. Deshalb ist es unbedingt notwendig, die Kleinen Fächer inhaltlich zu unterstützen.
Und was ist der zweite Aspekt?
Ich habe den Eindruck, dass diejenigen Anträge bei den Kleine-Fächer-Wochen erfolgreich waren, die nicht einfach auf eine Aufrechterhaltung des momentanen Zustands abzielen. Vereinfacht gesagt: Es ging nicht darum, einen weiteren Vortrag in Tibetologie zu unterstützen. Das Ziel war stattdessen, Initiativen zu fördern, die auf einen höheren Bekanntheitsgrad der jeweiligen Disziplin abzielen und auf eine bessere Verzahnung mit anderen Fachwissenschaften. Und noch eins ist mir aufgefallen: Viele erfolgreiche Projekte haben auch eine digitale Komponente – digital humanities ist ja ein großes Schlagwort, wenn wir wieder auf die Kultur- und Geisteswissenschaften schauen. Diese Erneuerung im Bereich Technologie halte ich für eine hervorragende Perspektive, die sich Kleinen Fächern bietet – eine Perspektive, bei der es nicht nur um die Wissensvermittlung, sondern auch die Wissensgenerierung geht.
Sie waren lange Jahre Rektor der Universität Basel und sind Präsident der schweizerischen Akademien der Wissenschaften, haben also einen guten Überblick: Wie gut gelingt diese Vernetzung der Fächer in der Praxis?
Was ich vielfach sehe, ist ein defensiver Diskurs – der Versuch, in der Pflege der Kleinen Fächer eine Art antiquarische Konservierung zu sehen. Ich fände eine Einbettung, wie ich es gern nenne, viel nützlicher: Die Kleinen Fächer sollten eine produktivere, aktivere Rolle im akademischen Leben an ihrer jeweiligen Hochschule spielen dürfen. Ich finde, dass viele Kleine Fächer im Rahmen der Bologna-Reform genau diese Chance vertan haben: Wenn wir ehrlich sind, wurde die Reform nicht inhaltlich genutzt; man hat stattdessen versucht, die bestehenden Formen des fachlichen Kanons einfach an eine neue Studienarchitektur anzupassen. Jetzt haben wir eine zweite Chance zu einer curricularen Reform, und zwar durch die digitale Transformation. Ich würde mir für die Kleinen Fächer sehr wünschen, dass wir sie nicht wieder vertun.
Das Interview führte Kilian Kirchgeßner.
Zur Person:
Antonio Loprieno ist Professor für Ägyptologie and er Universität Basel. Nach seinem Studium in Turin und Göttingen hatte er Professuren in Perugia und Los Angeles, bevor er im Jahr 2000 einen Ruf nach Basel annahm. Von 2005 bis 2015 war er Rektor der der Universität Basel. Seit Mai 2018 ist er Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz. An der HRK-Initiative „Kleine Fächer-Wochen an deutschen Hochschulen“ wirkte er als Gutachter mit.