Die Philosophiehistorikerin Mechthild Dreyer leitet die Arbeitsstelle Kleine Fächer an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ein Gespräch über die große Rolle von scheinbar unscheinbaren Disziplinen – und darüber, dass einige von ihnen einen ungeahnte Aufstieg erlebt haben.
Frau Dreyer, Sie beschäftigen sich seit 2012 intensiv mit den Kleinen Fächern. Was fasziniert Sie eigentlich daran?
Mich interessiert vor allem das, was hinter dem Thema steht: die Entwicklung von Wissenschaft. Kleine Fächer sind eine höchst dynamische Angelegenheit: manche werden größer, andere tun sich zusammen, manche sind Folge einer Ausdifferenzierung von Disziplinen. Und das kann als Indikator dafür dienen, wie sich die Wissenschaft im deutschen Hochschulsystem entwickelt.
Als sich Forschende in den 1970er Jahren zum ersten Mal damit beschäftigten, zählten sie 65 Kleine Fächer. Heute sind es 151….
….genaugenommen sogar 153, ich habe mir das vorhin noch einmal ganz aktuell angeschaut. Und genau das zeigt, wie dynamisch Wissenschaft ist. Die erste Erhebung vor 50 Jahren fiel in die Zeit, als sich an deutschen Universitäten die Massenfächer entwickelten. Damals gab es die Sorge, dass die Kleinen Fächer im Schatten dieser Massenfächer nicht mehr zur Geltung kommen könnten. Also fing man an, sie systematisch zu untersuchen. Ein ähnliches Interesse an kleinen Fächern entwickelte sich dann in der Folge des Bologna-Prozesses. 2007 wurde die Potsdamer Arbeitsstelle Kleine Fächer gegründet, welche die erste Kartierung durchgeführt hat. Die Kartierungsaufgabe wechselte dann 2012 nach Mainz.
Das klingt alles so theoretisch. Was lässt sich denn nun über die Entwicklung der Wissenschaft sagen, wenn man sich die Kleinen Fächer anschaut?
Da gibt es eine Reihe faszinierender Beispiele. Denken Sie zum Beispiel an das Fach Immunologie: Das war in den 1970er Jahren ein kleines Fach, das nur an einigen Universitäten in Deutschland gelehrt wurde. Heute gibt es keine Universitätsmedizin mehr, die ohne Immunologie auskommt, weil sie eine immense Bedeutung für die Gesundheit hat – das zeigt, wie sich der wissenschaftliche Fortschritt auf die Universitätslandschaft auswirkt. Oder nehmen Sie Fächer wie die Ethnologie oder die Gender Studies, die in den vergangenen Jahren zu Disziplinen mittlerer Größe geworden sind. Ähnlich war es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit der Slavistik. Es spiegeln sich also sowohl wissenschaftliche als auch gesellschaftliche Entwicklungen in den Kleinen Fächern wider.
Fällt Ihnen auch ein Beispiel für Kleine Fächer ein, die aus anderen Gründen aus Ihrer Definition herausgefallen sind?
Wir konstatieren, dass das Interesse an sogenannten Area Studies gewachsen ist, die als übergreifende Fächer große Regionen oder Teile eines Kontinents in den Blick nehmen. Sie integrieren dann sehr kleine, vormals selbstständige Disziplinen. So gehört die Austronesistik heute zu den Südostasien-Studien, die Rumänistik zu den Südosteuropastudien. An solchen Beispielen zeigt sich, dass sich manchmal geänderte Fragestellungen und neue Perspektiven am besten in einem größeren Kontext behandeln lassen.
Wie stehen denn die deutschen Hochschulen mit Blick auf die Kleinen Fächer im internationalen Vergleich da?
Interessanterweise ist Deutschland das einzige Land, in dem die Kleinen Fächer kartiert werden. Dadurch ist das Thema hier viel stärker im Fokus, obwohl es auch anderswo Kleine Fächer gibt. Wir planen jetzt ein gemeinsames Projekt mit Frankreich, wo schon seit einigen Jahren ein Interesse an Kleinen Fächern und ihrer Entwicklung zu beobachten ist.
Wie geht es denn den Kleinen Fächern in Deutschland?
Die Landschaft ist höchst differenziert. Rein quantitativ lässt sich feststellen, dass es in den vergangenen zwei Jahrzehnten klare Zuwächse bei den Kleinen Fächern im Bereich der Geistes- und Ingenieurwissenschaften gegeben hat, das gleiche gilt für Fächer im Bereich Gesundheits- und Kunstwissenschaften. Differenziert man diese Fächergruppen, dann ist beispielsweise bei den Geisteswissenschaften im Bereich der Alten Sprachen und Kulturen eine Verringerung von Professuren zu verzeichnen. Sie merken daran, wie differenziert das Spektrum dieser Fächer zu betrachten ist; deshalb lässt sich die Frage nicht so pauschal beantworten.
Dann versuchen wir es anders: Welche Bedingungen brauchen Kleine Fächer, damit sie an den Hochschulen gut gedeihen?
Hochschulen haben drei Aufgaben: wissenschaftliches Wissen zu generieren, weiterzugeben und zu erhalten. Wenn man diese drei Aufgaben anerkennt, ist das schon einmal eine gute Grundbedingung für die Kleinen Fächer, denn damit ist klar, dass man wissenschaftliche Disziplinen nicht nur nach der Zahl der Studierenden bewerten kann. Und nehmen Sie das Stichwort der Erhaltung: In der Vergangenheit gab es immer wieder Phasen, wo die gesellschaftliche Nachfrage nach bestimmten Disziplinen kaum vorhanden war, und dann kommt es plötzlich zu politischen Ereignissen, die die bis dahin scheinbar unwichtigen Fächer auf einmal in den Brennpunkt rücken lassen – denken Sie an die Slawistik, über die wir schon sprachen. Es ist also wichtig, ein Know-How vorzuhalten, auch wenn gerade keine Konjunktur für ein bestimmtes Thema zu herrschen scheint – und genau das ist eine der Leistungen der Kleinen Fächer.
Das Interview führte Kilian Kirchgeßner. Den zweiten Teil des Interviews finden Sie hier.
Zur Person:
Mechthild Dreyer ist Professorin für Philosophie des Mittelalters und ihre Wirkungsgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Viele Jahre lang war sie dort Vizepräsidentin für Studium und Lehre. Seit 2012 leitet sie gemeinsam mit Uwe Schmidt die Arbeitsstelle Kleine Fächer, die an der Mainzer Universität angesiedelt ist und in ganz Deutschland die Kleinen Fächer kartiert.