Der Schweizer Ägyptologe Antonio Loprieno über die unterschiedliche Stellung der Kleinen Fächer im angelsächsischen, französischen und deutschen Universitätsmodell – und über den Reiz der Vernetzung. Teil 2 des Interviews.
Herr Loprieno, Sie beschäftigen sich viel mit der historischen Entwicklung Kleiner Fächer – und sind als Ägyptologe selbst Vertreter eines solchen. Wenn Sie es sich wünschen dürften: Gibt es eine Phase, in der Sie lieber Ägyptologe gewesen wären als heute?
(lacht) Ich würde es anders formulieren: Ich war ja von 1989 bis 2000 an der University of California in Los Angeles tätig – und der Grund, weshalb ich mit Freude den Ruf nach Basel angenommen habe, war gerade das schöne fachliche Studium der Ägyptologie, das es in Basel noch nach dem alten Modell gab. Wenn ein Ägyptologe sein Fach in sich geschlossen erleben möchte, ist er auf jeden Fall an einer deutschsprachigen Universität besser aufgehoben als an einer amerikanischen.
Moment: Wie wird denn die Ägyptologie in den USA gelehrt?
Im englischsprachigen Bereich ist das Modell von area studies sehr weit verbreitet. Die typische Verortung der Ägyptologie wäre zum Beispiel in einem department of oriental languages, wie es in Oxford heißt, oder wie an der University of California in einem Bereich near eastern langagues and cultures. Darin spiegelt sich eine andere historische Entwicklung der Universitäten wider, die natürlich nicht nur die Ägyptologie betrifft. Es gibt das angelsächsische Modell, das französische Modell und das deutsche, das Humboldt’sche Modell.
Bleiben wir doch beim Beispiel der Ägyptologie: Wie wird sie nach dem französischen Modell gelehrt?
Sie werden in Frankreich kein Institut für Ägyptologie finden – mit Ausnahme von Straßburg, weil die Universität dort ursprünglich deutschsprachig war. Stattdessen geht die Ägyptologie in größeren disziplinären Strukturen auf, wo sie neben vielen anderen Fächern ihren Platz hat, allerdings ohne administrative Eigenständigkeit. Das könnte ein Département d‘histoire sein oder ein Département de sciences de l‘antiquité. Im Humboldt’schen Modell hingegen, das im deutschsprachigen Raum verbreitet ist, finden Sie die Ägyptologie in einem ägyptologischen Institut, an dem man Ägyptologie studiert. Hier sind Disziplin, Institut und Curriculum also deckungsgleich. Auf der französischen Seite orientieren sich die Disziplinen an methodischen Fragen, während sie im englischsprachigen Raum entlang der geographischen Distribution angeordnet sind.
Sie sind wegen des Humboldt’schen Modells aus Amerika wieder in die Schweiz zurückgekommen. Gibt es jetzt in der Rückschau etwas, was Sie am angelsächsischen Modell vermissen?
Oh ja: In Amerika hatte ich Lehrveranstaltungen gemeinsam mit einem Linguisten, einem Kunsthistoriker oder einem Geschichtswissenschaftler konzipiert. Diese Möglichkeit bietet unser fachliches Studium hier nur sehr eingeschränkt, und genau das vermisse ich manchmal. Man muss aber die Ehrlichkeit haben zu sagen: Für einen Ägyptologen ist das Modell, bei dem das fachliche Moment im Zentrum steht, die bessere Organisationsform.
Trotzdem fordern Sie, dass sich die Kleinen Fächer in Deutschland nicht konservieren, sondern öffnen sollen (s. Teil 1 des Interviews). Ist das nicht ein Widerspruch?
Ich halte zum Beispiel im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften den Ansatz der digital humanities für sehr vielversprechend. Oder, anders gesagt: Ich glaube nicht, dass es besonders verantwortungsvoll ist, heutzutage an einer europäischen Universität in einem geisteswissenschaftlichen Curriculum keine Statistik- oder Informatik-Kenntnisse zu vermitteln.
Verlieren die Kleinen Fächer damit aber nicht ihre Funktion als Wissensspeicher?
Wir müssen unterscheiden: Was ausgedient hat, ist meiner Meinung nach das Modell, dass ein kompletter Bachelor- oder Masterstudiengang in einem Kleinen Fach von dem einzigen Professor oder der einzigen Professorin gelehrt wird, die es an der jeweiligen Universität gibt. Das ist also eine strukturelle Frage. Was aber nicht ausgedient hat, ist der Inhalt der Kleinen Fächer. Hier würde ich mir allerdings wünschen, sie besser zu integrieren – insbesondere in unserem Zeitalter, wo man nicht mehr von den gleichen kulturellen Prämissen ausgehen kann wie vor 30 oder 40 Jahren.
Was ist also Ihr Vorschlag?
Wir sollten die kleinen Disziplinen in größere Curricula einbinden, wo gleichzeitig auch methodische Kompetenzen vermittelt werden. Man sollte auf der Bachelor-Ebene ganz grundsätzlich lernen, ein Historiker zu sein, ein Linguist oder ein Kunstwissenschaftler. Und auf dieser Grundlage werden dann etwa ägyptologische Inhalte vermittelt. Das hat für die Kleinen Fächer übrigens einen wichtigen Nebeneffekt: Das ägyptologische Wissen, um bei diesem Beispiel zu bleiben, beschränkt sich dann nicht mehr nur auf den engen Kreis der Ägyptologen, sondern es könnten viel mehr Studierende davon profitieren.
Das Interview führte Kilian Kirchgeßner.
Zur Person:
Antonio Loprieno ist Professor für Ägyptologie and er Universität Basel. Nach seinem Studium in Turin und Göttingen hatte er Professuren in Perugia und Los Angeles, bevor er im Jahr 2000 einen Ruf nach Basel annahm. Von 2005 bis 2015 war er Rektor der der Universität Basel. Seit Mai 2018 ist er Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz. An der HRK-Initiative „Kleine Fächer-Wochen an deutschen Hochschulen“ wirkte er als Gutachter mit.